In Armut und schwarzem Gewand: Die Straßenverkäuferin von Kabul

In Armut und schwarzem Gewand: Die Straßenverkäuferin von Kabul

Schräg gegenüber vom ehemaligen Frauengarten, einem Rückzugsort für Frauen – finanziert von einer amerikanischen Hilfsorganisation – steht sie: Eine Frau ganz in Schwarz gekleidet, nur ihre Augen sind sichtbar und auch nur dann, wenn man ihr direkt gegenübersteht. Die Sonne scheint auf ihr schwarzes Gewand, die Luft ist warm, obwohl es noch recht früh am Morgen ist. Langsam schiebt sie ihren Verkaufswagen vor sich her.

Sie fällt auf im Straßenbild; eigentlich machen diesen Job ausschließlich Männer. Osman Azizi, der ehrenamtlich für eine kleine NGO tätig und in Kabul aufgewachsen ist, beobachtet, dass immer mehr Frauen solche Aufgaben übernehmen müssen: “Die Wirtschaftslage ist so schlecht, viele Männer fallen als Hauptverdiener aus. Sie sind jetzt dazu gezwungen.” Früher, sagt er, sei es undenkbar gewesen, dass eine Frau als Straßenverkäuferin arbeitet.

97

Prozent der Bevölkerung Afghanistans lebt laut Unicef in Armut.

25,4

Millionen Menschen sind auf humanitäre Hilfe durch angewiesen.

20

Millionen Menschen haben schätzungsweise nicht ausreichend Essen.

Er hat den Kontakt zu der Verkäuferin hergestellt, als Nour Mina stellt sie sich vor; sie möchte ihr Schicksal mit der Welt teilen. 46 Jahre sei sie alt, sagt sie, und aktuell die Einzige, die Geld nach Hause bringe. “Mein Mann hat eine Herzschwäche”, erklärt sie; er sei daher komplett berufsunfähig und müsse außerdem immer wieder zur Behandlung ins Krankenhaus. Normalerweise gehe ihre Tochter mit ihr mit; doch die sei aktuell ebenfalls krank- seit einer Woche schon – und müsse zuhause bleiben.

Nour steht jeden Tag hier auf der Straße und versucht, Waren zu verkaufen: sieben Tage die Woche, von vormittags – sobald ihre Kinder aus der Schule kommen – bis zum Einbruch der Dunkelheit. Feiertage kann sie sich keine erlauben. “Das Geld, das ich hier verdiene, gebe ich direkt für das aus, was wir als Familie brauchen”, schildert sie. Es bleibe schlicht nichts übrig, das sie für einen freien Tag sparen. Nichts, was sie beiseitelegen könne für die Zukunft der Kinder. Einen höheren Betrag pro Monat für einen Großeinkauf – umgerechnet knapp 50 Euro – übernimmt derzeit die NGO, für die Azizi tätig ist, das sei eine große Hilfe, sagt sie. Dennoch bleibe kein Spielraum für eine Verschnaufpause.

Die Menschen bleiben zuhause

Nour arbeitet seit zwei Jahren als Straßenverkäuferin. Angefangen habe sie mit Kartoffeln und Zwiebeln – doch damit habe sie noch weniger verdient. Inzwischen setzt sie auf Snacks und Süßes, am beliebtesten seien Zitronenwaffeln. Seit die Taliban an der Macht sind, sei es ohnehin nochmal schwieriger geworden für sie, ihre Familie zu ernähren. “Wir standen früher in der Nähe von High Schools, da haben sich viele Leute getroffen”, sagt sie. Überhaupt seien Orte verschwunden, an denen viele Menschen zusammenkämen. Es gingen weniger Leute nach draußen und das bedeute für sie, dass es schwieriger sei, Orte zu finden, an denen sie dann tatsächlich auch Kund:innen in größerer Zahl antreffen könne.

Positiv beschreibt Nour dagegen die Reaktion der Menschen: “Die, die zu mir kommen, sagen mir, dass sie toll finden, wie ich meine Familie unterstütze und sagen mir liebe Worte.” Negativreaktionen kenne sie keine. Wenn jemand nicht positiv auf sie reagiere, dann ignoriere er sie. Aber schief angeschaut oder angesprochen werde sie nie – auch nicht seitens der Taliban.

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