Nusaybin: In permanenter Angst vor dem Staat

Nusaybin: In permanenter Angst vor dem Staat

Die mehrheitlich kurdische Stadt Nusaybin liegt unmittelbar an der geschlossenen Grenze zu Syrien. Die Menschen leiden jedoch mehr unter dem Krieg, den die eigene Regierung gegen die heimische Bevölkerung führt.

Die Angst in der kurdischen Bevölkerung ist groß. Offen über Politik reden möchte kaum jemand, erst recht nicht mit richtigem Namen. Als sich keine weiteren Kund:innen mehr im Kiosk in Nusaybin aufhalten, lässt der Inhaber seinem Frust dann freien Lauf. Gerade flimmern auf dem Fernseher Bilder aus Istanbul über den Bildschirm: Die Polizei hat grundlos auf einen Studenten eingeschlagen.

Der Kioskbesitzer deutet auf den Bildschirm und sagt dann, international verständlich, nur zwei Worte: „Erdoğan” und „Diktator” – anders als im Deutschen auf der letzten Silbe betont.

Hass, Gewalt und Spaltung

Dann zückt er sein Smartphone, sucht eine App zum Übersetzen. Mit Hilfe der Technik entsteht dann ein Gespräch über die im Fernsehen gezeigten Bilder und die generelle Lage vor Ort. Die Regierung unterdrücke die eigene Bevölkerung gewaltsam, nicht nur die kurdische, betont er, und macht Präsident Erdoğan für diese Entwicklung verantwortlich. „Früher hat es hier ein bisschen Demokratie gegeben, 2005, 2010“, beklagt er. Doch heutzutage könnten die Menschen ihre Meinung nicht mehr frei äußern, sie fürchteten Verfolgung durch den Staat.

Auch das Polizeiauto kann Einschusslöcher vorweisen.

Wie eine spaltende, Hass schürende Politik die Region beeinflusst, habe er auch im eigenen Umfeld erfahren, erzählt der Kiosk-Besitzer. Nusaybin liegt unmittelbar an der geschlossenen Grenze zu Syrien. Die jahrzehntelang engen Verbindungen zu Qamishli seien abgerissen. „Unsere Familie wurde in zwei gerissen“, beklagt er. Seit 50 Jahren lebe ein Verwandter in Syrien, doch seit 2005 hätten sie sich nicht mehr gesehen; mit der Grenzschließung bestehe nun keine Möglichkeit mehr.

Im Teegarten an der syrischen Grenze

Nur wenige Meter von eben dieser Grenze entfernt hat noch ein anderer Kiosk mit einem angrenzenden Teegarten geöffnet. Im Schatten der Bäume treffen sich die Menschen. Von hier aus sind sogar die fahrenden Autos in der Nachbarstadt erkennbar, ebenso wie der aufsteigende Rauch bei Kämpfen. Kurz wird es direkt am Grenzübergang unruhig, als eine Kuhherde die Grenze passieren darf – Menschen kommen während des Gesprächs keine hinüber.

Fast schon idyllisch: Der Teegarten liegt direkt an der syrischen Grenze.

Bikas, 45 Jahre alt, ist auf der anderen Seite geboren. „In meiner Kindheit haben wir uns hier gefühlt wie zuhause“, erzählt er von einer Zeit, in der Grenzen hier noch Fremdwörter waren. Drüben ertönt der Ruf des Muezzins zum Gebet ein bisschen zeitversetzt, selbst darüber ist der Unterschied zwischen den Ländern erkennbar. Darauf angesprochen zuckt er lachend mit den Schultern. Beim Spaziergang entlang des Zauns, der etwas vor der Grenze entlang entläuft, kommt er ins Reden.

Familien hätten auf beiden Seiten gewohnt, seien ohne Weiteres hin und her gependelt. Zum Spielen sei er nach der Schule einfach über die Grenze gegangen, erinnert er sich wehmütig. Heute steht hier nicht nur ein Zaun und dahinter eine Mauer: Grenzposten verstärken den Eindruck der Abschottung. Vor rund 30 Jahren, als Jugendlicher, habe er erstmals von den Konflikten zwischen türkischem Staat und der kurdischen Bevölkerung gehört. „Das war schwer zu glauben, weil ich es anders erlebt und gefühlt habe“, erinnert er sich.

Der Krieg verändert die Region

Noch einmal zehn Jahre später seien die ersten Drähte auf dem Boden zu sehen gewesen, doch der Handel florierte vor allem durch die deutlich günstigeren Produkte in Syrien. Mit der Revolution in seinem Heimatland folgte die harte Grenze:

Sofort wurde alles teurer, die Grenze dicht gemacht, der Strom war weg.

Weil er ebenfalls Kurde ist, beschloss Bikas, nach Nusaybin zu gehen. Von der türkischen Regierung und Bevölkerung sei er willkommen geheißen worden. Innerhalb der kurdischen Gemeinschaft habe die Flucht der syrischen Kurd:innen in die Türkei jedoch soziale Spannungen verursacht. Mittlerweile hat er sich hier ein Leben mit seiner Familie aufgebaut und Freund:innen gefunden.

Stundenlanges Vorgespräch

Mikkael, Ahmed und Ibrahim wohnen ebenfalls in der Provinz Mardin. Ihren genauen Wohnort und ihre richtigen Namen wollen sie nicht im Bericht lesen; zu groß ist die Angst vor Verfolgung durch die türkische Regierung. Der Einladung ins Haus zum eigentlichen Interview geht ein stundenlanges Vorgespräch mit Essen und Tee an unterschiedlichen öffentlichen Orten voraus. Sie wollen sichergehen, dass sie ihren Gästen vertrauen können, tasten sich nach und nach an politischere Themen heran – immer auf der Hut vor möglichen unerwünschten Zuhörer:innen

Das grundsätzliche Misstrauen gegenüber Fremden bei Gesprächen über Politik rührt aus den Erfahrungen mit der Staatsgewalt. Die hätten sie infolge des innertürkischen Krieges seit 2015 selbst gemacht. Ibrahim, 45 Jahre alt, erzählt, dass das türkische Militär eines Tages zu ihm nach Hause gekommen sei, um nach Mitgliedern der PKK zu suchen. „Sie haben mich gefoltert, geschlagen und aus dem ersten Stock geworfen“, berichtet er von mehreren Knochenbrüchen. Dabei habe er nichts mit der Organisation zu tun. Anschließend habe das Militär dieser die Schuld für den Vorfall gegeben.

Wiederkehrende Muster

Unabhängig lassen sich solche Aussagen im Nachhinein kaum verifizieren. Doch in zahlreichen Fällen lässt sich der Kampf um die Deutungshoheit solcher Ereignisse nachvollziehen, wie etwa bei Selamet Yesilmen. Die 44-jährige Mutter wurde kam im November 2016 durch eine Kugel ums Leben. Während kurdische Medien das Ereignis detailliert als Tat der türkischen Polizei beschreiben, sind sie türkischen Medien lediglich eine Kurznotiz mit Verweis auf „Terrorist:innen“ wert. Ein solches Muster zeigt sich des Öfteren, für Außenstehende bleibt die Wahrheit dadurch verborgen. Betroffene weisen jedoch immer wieder staatlichen Einheiten die Schuld zu.

Im Jahresbericht über die Türkei von 2016 schätzte die EU-Kommission, dass 355.000 Menschen zu Binnenvertriebenen wurden und sprach von „kriegsähnlichen“ Zuständen und einer „unverhältnismäßigen Zerstörung von privatem und kommunalem Besitz und Infrastruktur durch schwere Militär-Artillerie“. Im Jahr zuvor hatte sie von einem „Wiederaufflammen der Gewalt durch die PKK“ und ihr nahestehenden Gruppen sowie einer „umfassenden Antwort der Regierung“ gesprochen. 2016 hieß es zudem:

Es gab viele glaubwürdige Berichte von mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen, die durch die Sicherheitskräfte verübt wurden, darunter Folter, Misshandlung, willkürliche Verhaftungen und Brüche des Verfahrensrechts.

Neue Gesetze über die Bestattung von Leichen unbekannter Personen hätten Berichten zufolge ordentliche forensische Untersuchungen verhindert, die für gerichtliche Ermittlungen notwendig gewesen wären.

Die Gewalt geht weiter

Eben diese Menschenrechtsverletzungen setzten sich noch immer fort, sagen die drei: Drohungen, Gewalt, Mord. „Es gibt viele Dinge, bei denen sich das kurdische Volk schämt, sie zu erzählen. Sie werden vergewaltigt und getötet. Wenn du Kurd:in bist, wirst du sofort als PKK und Terrorist:in abgestempelt“, sagt Mikkael. Sie erzählten diese Geschichten nicht, weil sie für die PKK oder YPG seien, sondern gegen Gewalt: „Wenn sie gegen die PKK kämpfen wollen, sollen sie in die Berge gehen, aber nicht Zivilist:innen angreifen.“

Sein eigenes Grundstück erinnert ihn täglich an die Gewalt, die Nusaybin ab 2015 überzogen hat. Direkt an dem kleinen Vordach vor seiner Haustür sind Kriegsspuren zu erkennen, etwas ist hier ganz offensichtlich explodiert und hat ein Loch ins Mauerwerk gerissen.

Spuren des innertürkischen Kriegs am eigenen Vordach.

Terrorismus unter falscher Flagge

Aus dem Jahr 2016 datiert ein Foto, das sie zeigen. Eine Phosphorbombe, darauf der Schriftzug „Made in Turkey“. „Sowas bekommt die YPG nicht“, sagt Ibrahim. Er habe auch selbst gesehen, wie die Jandarma, ein paramilitärischer Verband, einen Tunnelbau begleitete, um diesen dann zu bombardieren und das Werk Terrorist:innen zuzuschieben.

In der Türkei könne ein:e Kurd:in im Grunde genommen alles erreichen, bilanziert Mikkael, auch in die Politik gehen. Doch als Kurd:in anerkannt zu werden, das gelinge nicht, man müsse sich selbst verleugnen, wenn man es zu etwas bringen wolle.

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