Yasin Adel: Wie Deutschland die erste Ortskraft in Afghanistan im Stich lässt

Yasin Adel: Wie Deutschland die erste Ortskraft in Afghanistan im Stich lässt

001 – diese Nummer trug Yasin Adel als erste Ortskraft für die Bundeswehr in Afghanistan. Trotz intensiver Bemühungen ließ ihn die Bundesregierung nach dem Abzug der Truppen zurück. Unter den Taliban befindet er sich in permanenter Gefahr – und in Sorge um seine Kinder.

Als Yasin Adel im November 2003 als erste Ortskraft der deutschen Bundeswehr in Kunduz seine Arbeit antrat, waren die Taliban gerade von den NATO-Mächten1Die Operation Enduring Freedom (OEF) wurde vom NATO-Rat als Reaktion auf die Anschläge in den USA am 11. September 2001 beschlossen weitgehend vertrieben worden. Adels Vertrag thematisierte Probezeit, Urlaubstage, Gehalt und alle üblichen Aspekte, sah aber keinerlei Lösung für den Fall seiner Gefährdung vor. Der Vertragstext sieht aus wie jeder typische deutsche Arbeitsvertrag. Es findet sich sogar eine Passage darin, die die Beendigung des Arbeitsverhältnisses bei Kriegsausbruch vorsieht.

Abruptes Aus für Menschenrechte

Doch keine 20 Jahre später halten die Taliban wieder die Kontrolle über das Land. Deutschland reagierte mit einer sogenannten Menschenrechtsliste für Afghan:innen, die gefährdet waren und schloss diese ohne Vorwarnung am 31. August 2021 bereits wieder. Seitdem wird ein Bundesaufnahmeprogramm angekündigt, das bis heute2Stand: 28. August 2022 weder implementiert noch offiziell terminiert ist. Doch auch Ortskräfte, also Afghan:innen, die für deutsche Behörden in Afghanistan gearbeitet haben, fühlen sich – teilweise – im Stich gelassen.

Yasin Adel sitzt mit tradioneller, blauer afghanischer Kleidung und grauer Weste vor einem roten Tisch. Er trägt kurze Haare und einen leichten Vollbart.
Yasin Adel.

Als er angefangen habe für die Bundeswehr zu arbeiten, so erinnert er sich, da habe die Bundeswehr gedacht, dass es nie mehr Krieg geben werde: „Und ich dachte damals, dass die NATO und die ganze Bundeswehr bleiben würden.” 2013 habe er beim teilweisen Truppenabzug dann verstanden, dass die Verbündeten das Land irgendwann gänzlich verlassen würden.

Ortskräfteverfahren lässt Yasin Adel außen vor

Im selben Jahr etablierte die Bundesregierung das sogenannte Ortskräfteverfahren. Zu spät für Adel: denn das Programm half nur jenen, deren Beschäftigung maximal zwei Jahre zurücklag.3Erst nach der Machtübernahme durch die Taliban dürfen durch eine Regeländerung alle Ortskräfte einen Antrag stellen, die ab 2013 für die Bundeswehr gearbeitet hatten. Trotz dieser Verbesserung blieb Adel erneut außen vor. Er selbst hatte 2007 nach einem Selbstmordattentat in Kundus nahe des Stützpunktes aus Angst und auf dringliches Bitten seiner Mutter seinen Vertrag gekündigt.

Heute sagt er – auf Deutsch: „Ja, natürlich hat das geholfen, was die Bundeswehr hier gemacht hat.“ In vier Provinzen sei er mit deutschen Soldat:innen unterwegs gewesen und habe das mit eigenen Augen sehen können. „Ich dachte aber, dass wenigstens die USA bleiben würden, weil die immer gesagt hatten, dass sie auf jeden Fall bleiben würden”, schildert er. Und dann? „Haben sie uns wie ein Dieb verlassen”, macht er seiner Enttäuschung Luft.

Anerkennung für die Bundeswehr

„Zur Bundeswehr denke ich nichts Schlechtes. Aber über die deutsche Regierung denke ich sehr schlecht. Denn sie sind sehr ungerecht zu uns. Egal, ob man zwei oder zwanzig Jahre gearbeitet hat, wir haben gearbeitet, Tag und Nacht”, sagt er. Dabei gehe es ihm weniger um sich selbst als um seine Kinder. Adel hat vier Töchter. Die jüngste von ihnen darf derzeit noch die Schule besuchen, die beiden mittleren sind vom Schulverbot nach der sechsten Klasse für Mädchen betroffen und die älteste hat ihren Schulabschluss im letzten Jahr erworben. Auch wegen der übrigen Gesetze, die die Freiheiten einschränken – insbesondere von Frauen – macht er sich große Sorgen.

„Wir haben gedacht, wenn die neue Regierung kommt, die Grünen und die SPD, dass die dann an uns denken, aber leider nicht“, kommentiert er die aktuelle deutsche Außenpolitik frustriert. Immer wieder habe er E-Mails geschickt, immer wieder habe er Absagen erhalten.

Ich kann Tag und Nacht schreiben; es ändert nichts.

Die letzte Absage hat er erst wenige Tage vor dem Interview im Juli 2022 erhalten. Er zeigt die Mail vor, in ihr ist sogar noch von der inzwischen gar nicht mehr greifenden Zweijahresfrist als Ablehnungsgrund die Rede.

Sorgen um die Kinder

Nachdenklich ergänzt Adel: „Wissen Sie, für mich wäre es egal, wenn ich allein wäre. Ich lebe vielleicht noch zehn oder 15 Jahre. Aber für meine Kinder ist es nicht egal. Die sollen leben dürfen, die sollen zur Schule gehen dürfen, studieren.“ Die Taliban seien ja inzwischen nicht mehr nur auf dem Dorf mächtig, sie seien überall. Er selbst versuche seit der Machtübernahme, unauffällig zu sein:

Ich habe meinen Bart wachsen lassen. Ich hatte nie einen Bart, ich mag das nicht. Ich bin bis zu den Taliban auch nie in die Moschee gegangen. Da gibt es zu viele Menschen, die gehen in die Moschee, lügen und morden. Ich hasse das. Jetzt zur Zeit muss ich in die Moschee gehen, dann mache ich das auch.

Er stockt kurz und betont: „Natürlich nicht das Lügen, aber fünfmal beten.“ Er grinst leicht, wird wieder komplett ernst. Sagt dann: „Sonst fragen die Leute. Ich muss auch traditionell gekleidet sein. Sonst fragen die, wieso ich Shirt und Hose trage. Das geht zur Zeit nicht.“

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Adel ist bereits aufgegriffen und verprügelt worden von den Taliban, irgendwer habe ihnen verraten, wer er sei. Er zeigt Bilder aus dem Krankenhaus, ein Schriftstück, das den Angriff bestätigt. Die Angst verfolgt ihn seitdem ständig. „Die meisten meiner Verwandten und Bekannten leben im Ausland. Andere Ortskräfte, die ich kenne, sind in den Iran und nach Pakistan geflüchtet oder verstecken sich”, schildert er. Auch er selbst habe versucht, das Land zu verlassen. Nach der Machtübernahme im August sei er – wie viele andere – zum Flughafen gegangen, habe versucht, einen der Evakuierungsflieger zu erreichen. Er selbst hätte es auch geschafft, erinnert er sich. „Aber meine Frau und Kinder, die haben es nicht geschafft, durch den Kanal zu waten”, schildert er. So seien sie wieder zurückgekehrt.

Alltag von Angst und Willkür

Seitdem ist Alltag der Familie in Kabul von Angst und willkürlichen Regeln geprägt. Adel und seine Familie verlassen das Haus nur für das Nötigste: Einkäufe, Schulbesuch, Beten. Das Geld für seine Familie verdient er als Sicherheitskraft und Verwalter eines Hauses, in dem sie selbst in einer der Wohnungen leben. „Sie sagen das Eine und machen das Andere”, fasst Adel die Politik der de-facto-Regierungsmitglieder zusammen. Die Menschen wüssten eigentlich nie, wie sie sich so verhalten müssten, um eine Bestrafung zu vermeiden.

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