Exil im Inland: Ein afghanischer Geheimdienst-Mitarbeiter berichtet

Exil im Inland: Ein afghanischer Geheimdienst-Mitarbeiter berichtet

Samir Kabuli (Name geändert) ist sichtlich nervös. Er geht kaum mehr nach draußen in seiner Heimatstadt Kabul, seit die Taliban in Afghanistan im August 2021 die Macht an sich gerissen haben. Kabuli hatte zuletzt für den Inlandsgeheimdienst gearbeitet, viele seiner Kolleg:innen wurden bereits angegriffen, bedroht, gefangen genommen oder ermordet.

Von der Schule zum Geheimdienst

Kabuli ist in Kabul aufgewachsen, hat Sozialwissenschaften studiert und 2010 graduiert. Er habe eigentlich eine Stelle als Dozent angestrebt, doch sei keine frei gewesen, erzählt er. So studierte er weiter, setzte noch ein Diplom in Informatik obendrauf. Dann begann er, in Nimrus für ein Trainingscenter zu arbeiten, das dem damaligen Bildungsministerium unterstand. Dort wurden Lehrer:innen geschult, um ins höhere Bildungswesen zu wechseln und bis zur zwölften Klasse zu unterrichten. „Ich habe dort andere Fächer gelehrt: Englisch und Geschichte. Nimrus war damals sehr schlecht gestellt, was Bildung anging”, erinnert er sich. Die Lehrer:innen hätten in der Regel kein Studium absolviert, sondern lediglich selbst die 12. Klasse abgeschlossen – und mit diesen Kenntnissen unterrichtet.

Im Trainingscenter von Nimrus

Durch die zwei Jahre im Trainingscenter habe ihre pädagogische Ausbildung daher verbessert werden sollen, doch der Weg dorthin war beschwerlich. „Nimrus ist weit entfernt von Kabul”, erklärt Kabuli, „wir mussten mit dem Bus hinfahren. Wir fuhren nachts um 2 oder 3 Uhr los und waren dann gegen 17 Uhr dort.“ Die Fahrtdauer allein sei weniger das Problem gewesen. Damals, 2011, sei die Straße durch Wardak, Zabul, Ghani, Kandahar, Helmand und weiter bis zur iranischen Grenze sehr unsicher gewesen. „Meine Mutter bat mich daher, mir eine sicherere Tätigkeit zu suchen”, sagt er. Sie habe sich zu viele Sorgen gemacht, wenn er wieder unterwegs gewesen sei.

Als Kabuli dann dauerhaft zurück nach Kabul kam, habe sein Onkel ihm vorgeschlagen, für den Inlandsgeheimdienst NDS (National Directorate of Security) zu arbeiten. „Schon mit meinem ersten Beruf wollte ich etwas für unser Heimatland tun, daher habe ich zugestimmt”, schildert er. Nach einer gründlichen Hintergrundprüfung – sieben Monate habe er dafür warten müssen – habe er die Stelle bekommen. Sie hätten jemanden gebraucht, der Englisch sprach und sich ein bisschen mit Informatik auskannte. „Als ich dort anfing, kannte sich das Militär kaum mit Computern aus. Ich habe erst einmal Schulungen durchgeführt”, beschreibt er seine Tätigkeit. Mit den Jahren habe er sich dann hochgearbeitet, höhere Geheimhaltungsstufen erreicht. „Weil ich die Unsicherheit auf dem Land während meiner Zeit als Lehrer selbst erlebt habe, wollte ich etwas tun, um das zu verbessern”, erklärt er.

Viele seiner Kolleg:innen hätten ebenfalls hart für eine bessere Zukunft gearbeitet; gerade die jungen Leute ein großes Interesse daran gehabt:

Wir alle hatten Hoffnung in dieser Zeit, dass durch die Republik die Lage im Land besser wird, das Land eine gute Zukunft hat. Wir waren froh, mehr Rechte zu haben, Bildung zu erhalten.

Kein Regionsdenken, kein Religionsdenken, kein parteiisches Denken habe da Platz gehabt. Es habe sich auch in dieser Hinsicht etwas zum Positiven entwickelt. Junge, gebildete Leute würden sich nicht mehr anschauen, mit dem Finger aufeinander zeigen, weil jemand einer anderen Ethnie angehöre. Usbek:in, Hazara, Tadschik:in, Paschtune:in? Das sei in diesen Kreisen völlige Nebensache gewesen: „Die jungen Leute wollten in einer Demokratie leben!”

Aktuell ist Kabuli ehrenamtlich aktiv, seit einem Jahr und fünf Monaten ist er bei Smile; ehrenamtlich. Er hat aktuell keinen anderen Beruf, er kommt her und engagiert sich für Kinder und Jugend: „Das ist das Einzige, was man derzeit in dieser schlimmen Situation tun kann.” Smile setzt sich besonders für (Halb-)Waisen und Kinder aus armen Familien ein.

Leider seien all diese Hoffnungen inzwischen zerstört worden. Und er sagt, über die NATO und allen voran die USA, die er damals seine Freunde nannte: „Sie waren nicht ehrlich mit uns, sie haben uns im Stich gelassen.“ Der Kollaps der Regierung sei vor allem auch auf das Doha-Abkommen zurückzuführen, das die USA ohne Beteiligung der afghanischen Regierung mit den Taliban geschlossen hätten. „Das Abkommen hat sich auch negativ auf die Moral im Land ausgewirkt. Viele von der Regierung, dem Militär und der Polizei dachten, dass die USA damit den Taliban die Macht übergeben hätten”, beschreibt er.

Der Fall Afghanistans

Und dann sei der 15. August 2021 geschehen. Als Geheimdienst hätten sie selbstredend mehr Informationen als andere gehabt, aber auch sie – zumindest auf der Geheimhaltungsebene, die ihm offenstand – hätten nicht damit gerechnet, dass das ganze System zusammenbricht: „Wir haben gedacht, dass die Taliban einen Teil der Regierung übernehmen, also einen Machtanteil haben.” Dabei hätten diese seit 2008 kontinuierlich an Einfluss im Land gewonnen, seien auch wieder militärisch aktiv geworden. Ihr Geld hätten sie nach dem Sturz durch die USA 2001 mit Drogen, Logistik verdient, obendrein Schutzgelder kassiert, auch von jenen NATO-Staaten, die das Land eigentlich aufbauen und vom Terror befreien wollen: „Es wurde von Jahr zu Jahr schlimmer. 2011 hatten sie dann wieder einen nennenswerten Machtanteil im Land.”

Als dann 2014 die ersten NATO-Truppen abgezogen wurden, insbesondere die deutschen, die bisher das afghanische Militär und die Polizei geschult und unterstützt, auch viel Planungs- und Organisationstätigkeiten übernommen hätten, sei es zum ersten großen Einbruch der Sicherheitslage im Land gekommen. „Das afghanische Militär rückte in den Vordergrund, musste sich selbst behaupten, war aber noch viel zu wenig ausgebildet dafür”, schildert Kabuli.

Doha-Vereinbarung als Vorbote

Einst wehte hier die Flagge der Republik, dann einige Zeit die Flagge des Emirats. Ab Juli blieb der Mast leer.

„Die Taliban haben das natürlich mitbekommen; die dachten sich, wenn die ausländischen Truppen es nicht geschafft haben, uns zu eliminieren, dann schafft es die afghanische Armee erst recht nicht.” So sei die Lage immer schlechter geworden; der letzte Schritt nach der Doha-Vereinbarung war dann noch die Gefangenenbefreiung, mit der Tausende Talibankämpfer wieder aktiv werden konnten. „Die Taliban waren nach der Vereinbarung überzeugt, dass sie die NATO und die USA besiegt hätten. Als sie damals gesprochen haben in Veranstaltungen oder Ministerien haben sie das auch offen so gesagt”, erinnert sich Kabuli. Er denke allerdings, dass das so nicht stimme: „Sie hatten nur Erfolg, weil die Politik sich geändert hat. Wenn die Regierung und der NDS tatsächlich von der NATO unterstützt worden wären, hätten die Taliban Afghanistan nie übernehmen können.”

Leben in Anonymität

In seiner verzweifelten Lage – wie seine ehemaligen Kolleg:innen hat auch Kabuli seine Adresse und Handynummer geändert, ist an einen geheimen Ort umgezogen – hat er jegliche Hoffnung verloren. „Sie ist aufgebraucht”, sagt er, „ich habe zehn Jahre lang für die Regierung gearbeitet, ein besseres Leben für alle in diesem Land, ich habe dafür jedes Risiko in Kauf genommen.“ Nun sei es durchweg schwierig, gerade für Menschen wie ihn, aber auch besonders für Mädchen und Frauen, gegen die sich viele der Talibanregeln richteten. Die guten Berufe seien obendrein fast nur Taliban vorbehalten, auch wenn diese gar nicht dafür ausgebildet seien. Ehemalige Geheimdienstler und Militärs müssten obendrein Racheakte fürchten. Auch seine Familie sei aufgrund seiner ehemaligen Tätigkeit gefährdet. Er hofft daher auf eine Chance, gemeinsam mit Frau und Kindern das Land zu verlassen. Bislang ist ihm eine solche allerdings verwehrt worden.

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Nur ein ganz kleiner Hoffnungsfunke bleibt ihm. „Die meisten Taliban kennen nur das Dorfleben und denken sehr einfach. Sie denken, wenn man in die Moschee geht und fünfmal am Tag betet, dann ist man ein guter Mensch. Und wenn jemand kurze Sachen trägt oder eine Jeans, dann ist er keiner. So einfach”, führt Kabuli aus. Er denke, dass diejenigen von ihnen, die nun zum ersten Mal in einer Stadt lebten, von der Kultur dort beeinflusst werden könnten; zum Positiven. „Aber das braucht Zeit”, kommentiert er.

Kabulis Blick auf die Taliban

“Wenn ein Mensch dazu bereit ist, sich umzubringen als Selbstmordattentäter, was ist er dann bereit, seinem Land und seinen Leuten anzutun? Das muss man sich so ansehen”, beschreibt Kabuli die Gefahr, die seiner Einschätzung nach von den Taliban ausgeht. Dabei betont er, dass ihre Überzeugung nichts mit dem eigentlichen Islam zu tun habe: „Der Islam möchte, dass alle Menschen in Frieden zusammenleben. Jeder sollte an seiner Seele arbeiten.”

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