Winnyzja: Ukrainische Drehscheibe für humanitäre Hilfe

Winnyzja: Ukrainische Drehscheibe für humanitäre Hilfe

Ohne die internationale Unterstützung hätte die Ukraine nicht mehr als 70 Tage gegen die russische standgehalten, davon ist Andriy Kovalov überzeugt. „Ich glaube nicht, dass wir das auf uns alleine gestellt schaffen können“, sagt er. Selbstverständlich geht es dabei auch um Waffenlieferungen, doch der Schwerpunkt des 45-Jährigen liegt auf der humanitären Ebene, die der Lokalpolitiker als Leiter des gemeinnützigen Fonds „Winnyzja – eine komfortable und sichere Stadt“ (“Вінниця – комфортне та безпечне місто“) organisiert – und die stützt sich zu großen Teilen auf Spenden.

Erhöhte Sicherheitsvorkerhungen

Medikamente für mehr als 70 Krankenhäuser in der Zentralukraine, Kuscheltiere für Kinder, Kleidung für Binnenvertriebene, erste Hilfe-Sets und Kleidung für die Soldat:innen, Tierfutter. Durch einen Spendenaufruf konnte jüngst sogar ein Auto in Deutschland gekauft und überführt werden. Bei einem Rundgang durch das Lager zeigt er, was hier organisiert wird. Parallel dazu fahren immer wieder Freiwillige auf das Gelände und laden die Hilfsgüter ein. Im Außenbereich darf nur so gefilmt werden, dass der Standort nicht lokalisierbar ist. Zu groß ist die Sorge, die Halle könnte ein militärisches Ziel darstellen.

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Viele der Hilfsgüter, die hier ankommen, würden aus Deutschland auf den Weg gebracht, erklärt Kovalov: Berlin, Bielefeld, Nürnberg, Stuttgart, Unterstützung erfahre die Organisation von vielen Seiten und nicht nur von Privatpersonen. Hier zahle sich das breite Netzwerk aus, das die Freiwilligen in Winnyzja in den vergangenen sieben Jahren aufgebaut hätten. Geldspenden nutzten sie auch, um in Deutschland Schutzausrüstung wie Protektoren für die Soldat:innen an der Front zu kaufen. Doch gerade die sei besonders schwer zu bekommen. „Egal was, wir brauchen alles für das Militär“, betont er.

Hoher Umschlag

Ebenso litten die Krankenhäuser an der zusammengebrochenen Logistik, da Nachschub fehle. Was aktuell im Lager steht, könnte er in ein bis zwei Tagen los werden. „Wir haben nicht so viel und wir brauchen mehr, mehr, mehr“, untermauert Kovalov. Denn aktuell werde stets priorisiert:

Wir gucken, in welcher Region gerade wirklich ein ‚heißer Krieg‘ ist. Das kommt zuerst. Wir haben tapfere Freiwillige, die die Hilfsgüter in jede Region in der Ukraine bringen, egal ob dort eine Bombe fällt. Dann sind die Regionen dran, in die viele Menschen geflüchtet sind. Wir haben erkannt, dass es dort auch viele Probleme gibt.

Aus diesem Grund engagiert sich das Team ebenfalls in Winnyzja. Mehr als 20.000 Menschen habe die Stadt mit ihren knapp 317.000 Einwohnern aufgenommen, hinzu kämen wenige Tausend weitere im Umkreis. Was zunächst nach großer Hilfsbereitschaft klingt, „ist tatsächlich ein großes Problem für die Städte, die viele Menschen aufnehmen“, sagt Kovalov. Leer stehende Gebäude seien nun plötzlich wieder bewohnt, obwohl Wasser- und Gasleitungen nicht mehr intakt seien. Hier werde auch versucht, Abhilfe zu schaffen.

Im Funktionier-Modus

Nach dem Schock am 24. Februar, als der großflächige Angriff durch Russland auf die Ukraine begonnen hat, habe sich die Bevölkerung inzwischen auf die neue Situation eingestellt. „Raketen fliegen über uns, aber die Leute laufen draußen. Wir tun einfach, was wir tun sollen“, beschreibt er den aktuellen Modus: „Etwas anderes kann niemand von uns machen.“ Unmittelbar schiebt er hinterher, dass er fest von einem Sieg der ukrainischen Armee ausgehe. Wie die Ukraine dann aussieht?

„Ich denke, es wird eine neue Ukraine sein: Mehr Gebäude, mehr Fabriken, mehr Investitionen, grüne Wirtschaft. Ich denke, es wird ein neues Land. Wir hoffen, mit der Hilfe aus Europa und der Welt.“

Auf die jüngsten Debatten um schwere Waffenlieferungen oder eine Kapitulation der Ukraine angesprochen, reagiert Kovalov irritiert. Es sei schwierig, Menschen in anderen Ländern zu verstehen. „Wenn sie hier wären und die Bomben und die Toten sehen, würden sie ihre Meinung in einer Minute ändern“, ist er überzeugt. So, wie sie sich auch bei den Ukrainer:innen geändert habe, die Russland vor dem Krieg als „großen Bruder“ gesehen hätten. Inzwischen verstünden alle, dass Russland der Feind sei und nach dem Krieg alles anders sein werde. Dabei sei er eigentlich überzeugt, dass der Mensch nicht für Krieg und Aggression werde, sondern um freundlich und hilfsbereit zu sein.

Mehr Unterstützung notwendig

Wichtig sei ihm jetzt, dass Europa die Ukraine nicht vergisst. „Unsere Leute und unser Militär in Mariupol – die ganze Welt muss ihnen helfen“, fleht er: „sie werden einfach getötet.“

Kurz nach dem Videodreh1Das Video wurde zur besseren Anschauung zum Ende des eigentlichen Interviews aufgenommen entschuldigt sich Kovalov zunächst, er sei etwas emotional geworden. Angesprochen auf die Entwicklung bei der Spendenbereitschaft röten sich bald die nun feuchten Augen. In den ersten Wochen hätten sie viel bekommen, doch nun werde es immer weniger. Bei haltbarem Essen hieße es inzwischen: „Wir brauchen das für uns.“ Er verstehe, dass steigende Preise, teurere Energien ein Problem in den anderen Ländern seien.

Der Unterschied zwischen Krieg und Frieden

Die Ukraine stehe auch an der Seite ihrer Verbündeten, doch sei die Ausgangslage eine andere: „Wir wissen nicht, was in einer Minute sein wird. Vor zwei Tagen waren Raketen über Winnyzja, Dnipro, Charkiw, Iwano-Frankiwsk, Lwiw“, erläutert Kovalov. Das sei eben der große Unterschied zwischen Krieg und Frieden. „Sogar meine Kinder verstehen das und sagen, sie wollen keinen Krieg“, fährt er fort. Dabei lebten doch alle Menschen unter Gott. „Wieso brauchen wir das alles?“, stellt er mit zittriger Stimme in den Raum. Er entschuldigt sich noch einmal, dreht sich um, sucht sich den Sichtschutz einer Palette. Ein unterdrückt leises, tiefes Seufzen ist zu hören.

Wenig später tauscht sich Kovalov mit den Helfer:innen wieder über die weitere Koordination der Hilfsgüter aus. Weitere Autos fahren vor, werden für die nächste Tour beladen. Es geht weiter. Muss.

Die Hilfsorganisation “Winnyzja – für eine komfortable und sichere Stadt” verteilt empfangene Spenden im Frontgebiet und der Region.

Offenlegung: Unterkunft und Verpflegung in Winnyzja wurden von Dritten finanziert. Das hatte keinen Einfluss auf die Themenauswahl.

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