Chemnitz bekommt ein NSU-Dokumentationszentrum – vorübergehend

Eine Frau mit einem Rucksack betrachtet eine auf einem Bildschirm angezeigte Gedenkausstellung mit den Namen einzelner Personen. Auf dem Bildschirm ist eine weitere Frau zu sehen.

Die Bundesregierung unterstützt ein Dokumentationszentrum rund um den Rechtsterrorismus des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU). Initiativen und Angehörige der Opfer haben jahrelang dafür gekämpft.

Die Opfer des NSU

  • Enver Şimşek
  • Abdurrahim Özüdoğru
  • Süleyman Taşköprü
  • Habil Kiliç
  • Mehmet Turgut
  • İsmail Yaşar
  • Theodoros Boulgarides
  • Mehmet Kubaşık
  • Halit Yozgat
  • Michèle Kiesewetter

Ein „jahrelanger Kampf der Zivilgesellschaft“, wie Khaldun Al Saadi es formuliert, nähert sich einem großem Etappenerfolg. Aktivist*innen, Initiativen und Vereine setzen sich seit Jahren vehement dafür ein, den Komplex rund um das Neonazi-Netzwerk Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) umfassend aufzuarbeiten: Mit einem Pilotvorhaben für ein NSU-Dokumentationszentrum in Sachsen nimmt das Vorhaben nun erste konkrete Züge an. Ab 2025 sollen in Chemnitz und Zwickau die ersten Erinnerungsräume entstehen.

Ein Mann im blauen Anzug spricht bei einer Podiumsdiskussion, flankiert von zwei weiteren Teilnehmern, in einem Raum mit Plakaten mit Logos und Namen.
Khaldun Al Saadi neben BMI-Staatssekretätin Juliane Sefiert.

Der gebürtige Chemnitzer Al Saadi zählt zur Projektleitung des Pilotvorhabens und engagiert sich unter anderem in der Initiative Offene Gesellschaft, die die Gesamtsteuerung für das Projekt übernimmt. Mitte April haben die Beteiligten das Vorhaben in Chemnitz vorgestellt, das Al Saadi als „Mammut-Aufgabe“ versteht, die sich nur gemeinschaftlich stemmen lasse.

Opfer-Angehörige meldet sich zu Wort

Wie notwendig eine Aufarbeitung ist, unterstreicht eine Sprachnachricht von Gamze Kubaşık, die sich als Podiumsgast entschuldigen lässt. Ihr Vater, Mehmet Kubaşık, wurde am 4. April 2006 in Dortmund von NSU-Mitgliedern erschossen wurde. „Gerechtigkeit kann nur geschaffen werden, wenn uns Raum zum Erinnern gegeben wird“, sagt sie. Die Taten, zu denen neben neun Morden auch Bombenanschläge und Banküberfälle zählen, müssten als Bestandteil deutscher Geschichte verstanden werden. „Mein Vater und die anderen Opfer sollen nie in Vergessenheit geraten“, sagt Kubaşık. Dafür brauche es Orte für die Auseinandersetzung, Vernetzung und angesichts noch immer offener Fragen auch wissenschaftliche Arbeit.

Genau das soll in dem Pilot-Dokumentrationszentrum passieren. Ende Februar 2024 hat die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) eine Machbarkeitsstudie vorgelegt und beschrieben, wie ein Verbundsystem an Erinnerungsorten aussehen kann. Angesichts der Anschläge im gesamten Bundesgebiet brauche das Gedenken eine „Mehrortigkeit“, die auch regional-spezifische Fragestellungen aufgreife, sagt BpB-Präsident Thomas Krüger:

Ein solches Verbundsystem bietet die Möglichkeit, angesichts pluraler Zielgruppen und vielfältiger Aufgaben eines künftigen Dokumentationszentrums zum NSU-Komplex, stärker arbeitsteilig und eben auch spezialisiert ganz bestimmte Aspekte zu verfolgen.

Zwei Diskussionsteilnehmer, ein Mann und eine Frau, diskutierten an einem Konferenztisch mit Namensschildern und Wasserflaschen vor sich.

Ziel eines Dokumentationszentrums sei explizit nicht, ein Museum zu schaffen, wie Staatssekträtin Juliane Seifert betont. Viel mehr stünden Aufarbeitung, Erinnerung und Zukunft im Blickpunkt, etwa durch:

  • Ein digitales Archiv zum Rechtsterrorismus in Deutschland
  • Politische Bildung, um Wachsamkeit zu schaffen (u.a. auch für Polizist:innen)
  • Ein Anlaufpunkt für junge Menschen und Schulklassen
Ein Mann in einem blauen Hemd spricht auf einer Konferenz. Vor ihm sitzt ein Tisch mit Mikrofonen und einem Namensschild.
Jörg Buschmann vom Leitungsteam des Pilotdokumentationszentrums.

Das Pilotvorhaben in Sachsen könne hierfür einen Startpunkt bieten. Jörg Buschmann von den Regionale Arbeitsstellen und Angebote für Bildung, Beratung und Demokratie e.V. (RAA – Sachsen e.V.) schweben etwa Versammlungen und Vernetzungstreffen vor. In einer weitergehenden Forschung oder bei Symposien könnten Hintergründe und Ursachsen des Rechtsterrorismus ausgeleuchtet werden. „Das Ziel ist, Kontinuitäten besser verstehen zu können und das Bewusstsein für die Auseinandersetzung mit rechtsmotivierter Gewalt zu schärfen“, sagt er. Genauso lasse sich der ostdeutsche Erfahrungsraum etwa mit den sogenannten „Baseballschlägerjahren“ aufgreifen oder ostdeutsche Migrationsgeschichte in den Blick fassen.

Bundesweiter Aufklärungsbedarf

BpB-Präsident Krüger stellt auch klar, dass das Thema nichts spezifisch Ostdeutsches sei. Vielmehr ziehe sich eine „Blutspur des Rechtsterrorismus“ durch die Bundesrepublik; ob in Mölln, Solingen, Lübeck oder beim Oktoberfest-Attentat 1980. Deshalb müsse ein solches Projekt breit angelegt sein, Chemnitz habe als Rückzugsort des NSU-Trios einen „legitimen Platz“ im Verbundkonzept.

Der Hauptstandort des Dokumentationszentrums soll allerdings außerhalb Sachsens liegen. “Wenn er in Chemnitz wäre, wäre er nicht im Sinne der Betroffenen und damit auch nicht in unserem Sinne”, betont Al Saadi auf dem Podium. „Aufgrund der virulenten Bedrohungslage für migrantisch markierte Menschen ist Sachsen jedoch kein Ort, den regelmäßig zu besuchen sich Opfer und Angehörige vorstellen könnten“, heißt es in einem entsprechenden Teilbericht der Uni Göttingen. Viel mehr wünschten sie sich einladend gestaltete Orte, die die Lebens- und Migrationsgeschichte der Betroffen positiv in den Vordergrund stellten. Die Projektgruppe der BpB verfolgt in diesem Zuge zwei Ziele:

  • Eine Wanderausstellung, um bundesweit über den NSU-Terror aufzuklären und an die Taten zu erinnern.
  • Ein digitales, didaktisches Paket: Bestehendes und neues Material soll so zusammengeführt werden, dass es etwa für den Schulunterricht oder außerschulische Bildungsangebote genutzt werden kann und immer zugänglich ist.

Aus Sicht der Projektbeteiligten muss die Aufarbeitung weiterhin stattfinden. „Es darf kein Schlussstrich unter den Ermittlungen und der gesellschaftlichen Aufarbeitung gezogen werden“, sagt Lydia Lierke, Projektleiterin bei „Offener Prozess“. Das Projekt bündelt seit fünf Jahren Initiativen und Informationen zur Aufarbeitung der NSU-Verbrechen in Chemnitz, Sachsen und bundesweit.

Eine Frau mit kurzen lockigen Haaren spricht auf einer Konferenz. Sie trägt einen schwarzen Rollkragenpullover und sitzt neben zwei Männern, die in eine Diskussion vertieft sind. Auf dem Tisch stehen Mikrofone und Wasserflaschen.
Lydia Lierke vom Leitungsteam

Viele Fragen rund um den NSU und sein Netzwerk seien noch unbeantwortet, auf der anderen Seite wüssten viele junge Menschen nichts mehr über den erst vor elf Jahren begonnen NSU-Prozess. „Der NSU-Komplex ist eine Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte“, unterstreicht Lierke die Bedeutung. Zudem brauche es Orte von und für migrantische Perspektiven, an denen auch die unerfüllten Hoffnungen und das staatliche Versagen sichtbar würden. Eine im Projekt entwickelte Wanderausstellung werde in das Pilot-Dokumentationszentrum übergehen.

Die Eröffnung des Hauses an der Chemnitzer Augustusstraße ist für 2025 vorgesehen, wenn die Stadt als Kulturhauptstadt Europas auf zahlreiche Besucher:innen hofft. Die Finanzierung des Pilot-Dokumentationszentrums ist vorerst für zwei Jahre gesichert. Bund und Land Sachsen fördern das Projekt mit jeweils zwei Millionen Euro.

Stiftung als Langzeitlösung

Um eine dauerhafte – und vor allem unabhängige – Finanzierung zu sichern, hoffen die Beteiligten, dass sich eine vom Bund finanzierte Stiftung als Träger des Zentrums gründen lasse, ergänzt Lierke im Gespräch mit Report vor Ort.

Um das Verbundkonzept wie in der Machbarkeitsstudie beschrieben umzusetzen, sind allerdings deutlich mehr Investitionen erforderlich: Ohne Miet- und Betriebskosten beziehungsweise Umbau und Renovierung einer Immobilie setzt die BpB von 2024 bis über 2027 hinaus rund 38 Millionen Euro an.

Beitrag veröffentlicht am Mai 8, 2024

Zuletzt bearbeitet am Mai 8, 2024

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