Im Krieg richtet sich der Fokus auf die Front. Organisationen wie der Veteran Hub in Kyjiw bieten Unterstützung für die Angehörigen. Zwei Frauen erzählen, wie sie mit der Situation umgehen.
Jede:r Soldat:in an der Front hinterlässt zuhause Angehörige: Verwandte, Freund:innen, Bekannte. Nina Mamontova kennt das Gefühl zurückzubleiben. Die Ungewissheit, ob ihr Mann für den nächsten Fronturlaub nach Hause kommen wird. „Ich lebe damit seit 2014“, erzählt die 30-Jährige. Was das bedeutet? „Ich lebe von einem Anruf zum nächsten. Von Textnachricht zu Textnachricht. Das Leben ist geteilt in Brüche“, beschreibt Mamontova.
So gut es in einer solchen Situation eben geht, macht sie dennoch weiter. Die Phase der gesundheitlichen und mentalen Probleme habe sie zumindest weitgehend hinter sich gelassen. Sie weiß: „Wenn man nicht am Stress arbeitet, wirkt sich das auf den Körper aus.“ 2017 habe sie bei einem Training für Frauen von Soldaten teilgenommen und realisiert, dass sie mit ihrer Situation nicht allein war. Seitdem wisse sie, wie wichtig es ist, über die Gefühle zu sprechen.
Im Veteran Hub in Kyjiw leitet sie inzwischen Gruppen für Angehörige von Soldat:innen und hilft anderen Betroffenen mit ihren jahrelangen Erfahrungen. „Es gibt auch Männer, die zuhause bleiben. Da gibt es keine großen Unterschiede“, sagt sie. Der Hub wurde 2017, drei Jahre nach Beginn der Kämpfe im Donbass, gegründet. Die Initiator:innen des Veteran Hub bieten noch weitere Angebote und Aktivitäten für die Familien von Soldat:innen an der Front: Beratung, Rechtsbeistand, Sozialarbeit sind die Schwerpunkt.
Mariia Stetsyuk hat die Gesprächsrunden ins Leben gerufen. Die Psychologin zählt sich selbst seit 2015 zu den wartenden Angehörigen. Aus eigener Erfahrung kennt sie also Gefühle, die die Teilnehmer:innen durchmachen. „Bei normalen Psycholog:innen haben sie vielleicht nicht so viel Vertrauen und öffnen sie nicht“, sieht sie einen Vorteil in den Gruppenangeboten. So hätten sie professionelle Anleitung und wüssten, dass andere ihre Erfahrungen teilten; könnten sich gegenseitig helfen.
Rund 100 Teilnehmer:innen, überwiegend Frauen, versammelt der Kyjiwer Veteran Hub regelmäßig in Videokonferenzen und Präsenzterminen. Viele warteten seit mehr als einem Jahr auf ein Gesetz zur Demobilisierung für die Soldat:innen, die an der Front gewesen sind. „Wir wissen nicht, ob es kommen wird“, sagt Stetsyuk. Die längste Phase, in der sie ihren Mann nicht gesehen habe, habe rund sechs Monate gedauert. Sie wisse jedoch von Angehörigen, bei denen es mehr als ein Jahr sei: „Sie warten auf eine Nachricht am Morgen. Wenn sie Glück haben, kommt sie am Abend.“
Doch selbst wenn es zum Wiedersehen kommt, sei das Familienglück nicht garantiert. Zahlreiche Scheidungen habe es deshalb gegeben. „Das verändert eine Beziehung stark, manche erkennen ihre:n Partner:in nicht wieder“, schildert die 36-Jährige. Soldat:innen lebten unter besonderen Umständen und in einer komplett anderen Situation als ihre Angehörigen.
Das kennt auch Nina Mamontova. „Das Leben ändert sich drastisch, plötzlich muss man alles alleine machen“, schildert sie. Über die Jahre habe sie gelernt, sich erst um sich selbst zu kümmern – und sei es, mit Atemübungen und Yoga in den Tag zu starten. Obwohl sie einen emanzipierten Eindruck erweckt und auch auf den hohen Frauenanteil im Militär hinweist, bringt der Krieg doch auch die traditionellen Rollenbilder zum Vorschein, wenn sie etwa sagt: „Die Hauptaufgabe einer Frau ist, ihren Mann und die Verwandten zu unterstützen.“
Sie und ihr Mann lebten nun zwar einen gänzlich unterschiedlichen Alltag. „Aber jede:r hat für sich etwas erreicht“, betont sie und verweist auf ihr Engagement für die andere Angehörigen. Wenn sie sich dann sehen, hätten sie dann immer wieder Gesprächsthemen oder Pläne für Aktivitäten. „Wir können auch zusammen schweigen, das ist nicht unangenehm“, merkt Mamontova an. Anfänglich habe sie nicht über ihre Probleme reden wollen, um den kriegsgeprägten Mann zu schonen. „Aber dann kann man keine Verbindung aufbauen. Er wollte auch am normalen Leben teilhaben“, beobachtete sie.
Auf der anderen Seite sei die Rückkehr für die Veteran:innen nicht einfach, weiß Psychologin Stetsyuk – insbesondere vor dem Großangriff im Februar 2022. „Die Gesellschaft hat sie nicht immer akzeptiert“, sagt sie. Zudem sei es allgemein nicht sonderlich in der ukrainischen Kultur verhaftet, über Gefühle zu sprechen oder sich professionelle Hilfe zu suchen. Das ändere sich angesichts der Dimension des Krieges allmählich: „Heute kennt fast jede:r Ukrainer:in jemanden an der Front.“ Stetsyuk will daher ihre Angebote auf Gruppen für homosexuelle Paare ausweiten. Doch auch für die Angehörigen sei die Rückkehr nicht immer einfach, wenn sich die Kommunikation durch die unterschiedlichen Erfahrungen grundlegend ändere. Umso wichtiger seien Angebote wie die des Veteran Hub in Kyjiw.
Obwohl ihre Partner bereits seit Jahren mit der ukrainischen Armee kämpfen, ist die Situation für Angehörige Stetsyuk und Mamontova noch einmal eine andere. „Damals habe ich noch nicht gewusst, wen wir wirklich bekämpfen“, sagt sie über die Anfänge des Krieges 2014. Das habe sich nun geändert: „Es ist viel grauenhafter. Der Tod liegt in der Luft.“ Wenn der Krieg gewonnen sei, werde es auch im sozialen Bereich viel wiederaufzubauen geben, ist Stetsyuk daher überzeugt. Doch anders als die zerstörte Infrastruktur lässt sich ein verlorenes Leben nicht wiederbringen.
Beitrag veröffentlicht am September 1, 2023
Zuletzt bearbeitet am September 1, 2023