Charkiw: Rückkehr in Ruinen

Charkiw: Rückkehr in Ruinen

Ihr Viertel ist nahezu komplett zerstört, die Grenze zu Russland rund 40 Kilometer entfernt: Dennoch kehren erste Anwohner:innen zurück nach Charkiw-Saltivka. Was sie antreibt und bewegt.

Kriegsspuren prägen die Nordstadt von Charkiw auch rund ein Jahr nach dem Ende der Bodengefechte noch deutlich. Zerborstene Fenster, Rußspuren, löchrige Fassaden und Schutthaufen drumherum weist fast jedes der Hochhäuser in Saltivka auf. In Sowjetzeiten gebaut, zählte das Wohnviertel einst zu den am dichtest besiedelten in Europa. Geblieben ist ein Schatten seiner selbst.

Wasser aus dem Fluss

Trotz der Schäden und einer weiterhin dysfunktionalen Infrastruktur kehren seit einigen Monaten die ersten Menschen zurück in ihre Wohnungen. Wasser holen sie sich aus dem Fluss, der durch das Quartier fließt, oder für 80 Kopeten (2 Cent) pro Liter gefiltert aus einem kleinen Shop. Im Frühjahr stehen noch immer die Wärmezelte; die Gasleitungen sind noch nicht repariert. Obwohl noch immer gelegentlich Geschosse in dem Gebiet rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt einschlagen, beginnen allmählich die Sanierungsarbeiten.

Auf einer Parkbank vor einem der Gebäude, dessen Fassade noch mit dutzenden Einschusslöchern versehen ist, hat Alina Semenko mit ihrem Hund Platz genommen. Vor den Kämpfen ist sie im Frühjahr 2022 geflohen und hat in Wunstorf Schutz gefunden. Doch anders als ihre Eltern und ihre Tochter hielt sie es in Deutschland nicht aus und kehrte zurück. „Ich bin Architektin. Ich will dabei helfen, die Stadt wieder aufzubauen“, sagt die 39-Jährige.

Saltivka: anpacken und aufbauen

Als Mitarbeiterin eines Staatsunternehmens könne sie sich mit ihren Fähigkeiten nützlich machen. In Deutschland habe sie wegen fehlender Sprachkenntnisse und bürokratischer Hürden keine Möglichkeiten gesehen, produktiv zu sein. Nun erhalte sie immerhin ein normales Gehalt. Gleichwohl zeigt sie sich dankbar für all die Unterstützung, die Ukrainer:innen in Deutschland und das Land als Ganzes erhalten.

Weil ihre Wohnung ausgebrannt und erst teilweise renoviert ist, lebt Semenko nun in der Wohnung eines Nachbarn. Nur zwei Familien wohnen Mitte März in dem Hochhaus: „Es ist gruselig. Aber ich habe keine andere Wahl.“ Sie versuche, die Hoffnung zu bewahren und gute Laune auszustrahlen. „Wir werden unter allen Umständen überleben“, betont sie.

Raketentrümmer als Souvenir

Ein besonderes Souvenir hat sich Sergey Khristich aufbewahrt: Die Trümmer einer Rakete, die nur wenige Meter von seiner Wohnung entfernt eingeschlagen ist. „Ich behalte sie für das Tribunal in Den Haag“, sagt er zuversichtlich. Bereits seit Mai 2022, kurz nachdem die ukrainische Armee das Viertel zurückerobert hatte, kehrte er zurück. „Ich habe wie ein kleiner Junge geweint, es war zu emotional“, erzählt er. Und just in dem Moment, als er vor seinem Zuhause gestanden habe, habe er abermals vor dem Beschuss in Deckung gehen müssen.

In Charkiw-Saltivka sind erste Anwohner:innen in das zerstörte Viertel zurückgekehrt. Sergey Khristich, DJ und Fotograf, bewahrt die Trümmer eine Rakete bei sich auf, die vor seinem Haus einschlug.

Zwar lebt Khristich wieder in seiner Wohnung, doch an Alltag oder Normalität ist hier nicht zu denken. Wie soll ein Fotograf und DJ hier auch zu Aufträgen kommen? „Ich engagiere mich jetzt als Helfer“, sagt er. Mit seiner Gruppe verteilt er regelmäßig Essen für 140 Menschen und organisiert Aktivitäten für Kinder. „Aber es kommen mehr und mehr Leute zurück und wir haben nicht genug für sie“, bedauert er.

Trotzdem zeigt sich auch er optimistisch, dass Saltivka eine florierende Zukunft bevorsteht. „Bis auf eine kurze Unterbrechung habe ich immer hier gelebt“, sagt er.

Restaurantbesitzerin erzählt von Kriegserfahrungen

Im Stadtzentrum sind die Schäden mit Ausnahme des Verwaltungsgebäudes deutlich weniger sichtbar. Unweit des Unabhängigkeitsplatzes betreibt Lyudmyla Servetnyk das Oliv’e Café. Eröffnet hat die 53-Jährige im September 2021, ein halbes Jahr vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine. Im Mai verlor sie bei einem Bombardement einen zweiten Standort in einem Dorf nahe Charkiw. „Unsere Camping-Hütte in Alt-Saltivka ist auch dahin“, sagt sie.

Lyudmyla Servetnyk, 53, ist ehemalige Polizistin betreibt nun das Oliv’e Café in Charkiw.

Die frühere Polizistin hatte die Stadt für rund zwei Monate verlassen und in einem Dorf in der Region verbracht, das zwischenzeitlich ebenfalls bedrohlich nahe an der Front lag. „Bei einem Beschuss wurde mir durch die Druckwellen mein Bein gebrochen“, beschreibt Servetnyk. Dutzende Einschusslöcher in ihrem Auto zeugen von heftigen Kämpfen. Einmal sei sogar ein russischer Truppentransporter in Richtung ihres Mannes gefahren. „Aber im letzten Moment hat er gedreht“, erzählt sie erleichtert.

Hauptsache am Leben

Mit Tränen in den Augen beschreibt sie, wie sie kurz nach ihrer Genesung dabei half, Menschen aus den umkämpften Orten zu evakuieren. „Es war beängstigend, rechts und links gab es Explosionen“, sagt Servetnyk und wischt sich über die feuchten Augen. Doch inzwischen habe sie einen philosophischen Ansatz gefunden, um das Erlebte zu verarbeiten: „Ich bin am Leben und gesund. Ich will weiterleben.“ Materielle Schäden könnten ersetzt werden.

Zerbrochen sind dagegen Familenbande. „Meine Schwester lebt in Moskau. Sie behauptet, wir würden uns selbst beschießen“, sagt Servetnyk und schiebt hinterher: „Ich habe keine Schwester mehr.“ Ihre Mutter, Russin, lebte in Nord-Saltivka und starb sechs Monate vor dem Großangriff. „Ich bin froh, dass sie das nicht mehr sehen musste“, kommentiert die 53-Jährige. Als Siebenjährige hatte ihre Mutter den Zweiten Weltkrieg erlebt und hätte einen weiteren Krieg nicht mehr verkraftet. Ihre Tochter lebt mit ihrer Familie bereits seit einigen Jahren in Wien.

Die kleinen Sorgen des Alltags

Abseits der Kriegssorgen muss sich die Unternehmerin und leidenschaftliche Köchin noch um die Alltagsprobleme kümmern. So auch um den Wasserschaden, den ein defektes Heizungsrohr in ihrem Restaurant angerichtet hat. Doch nach Erlebnissen, wie unter Beschuss zu kochen, sieht sie solche Herausforderungen gelassen.

Weiterlesen: Unsere Reportage aus Charkiw im Mai 2022

Es ist eine Mischung aus (erzwungener) Zuversicht, Trotz und Pragmatismus, die viele Ukrainer:innen in dieser Phase des Krieges ausstrahlen; nach dem weitgehend gestoppten Vormarsch Russlands, den ersten Erfolgen ihrer Armee und vor der erhofften Gegenoffensive. Doch der Wiederaufbau von Vierteln wie Saltivka wird noch deutlich länger als die Kämpfe dauern.

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