Unsere Gastautorin, Jules, hat wegen der russischen Invasion in der Ukraine ihre russische Schwester in Izmail nahe Odesa besucht. Hier berichtet sie von ihrer bewegenden Reise.
Teil III verpasst? Hier lesen.
Rumänien, Isaccea, 22:30 Uhr: In Dunkelheit und Kälte zittern Freiwillige in neonfarbenen Warnwesten unter Baldachins, vor Essensständen, hinter Klapptischen, die beladen sind mit Hygieneartikeln, Haustierbedarf und Medizin; rumänische Simkarten mit Guthaben werden gratis vergeben; alles kommt aus Spenden. Polizisten und Grenzer gestikulieren sich Anweisungen zu. Unter den geparkten Autos erkenne ich Vans mit den Logos deutscher, polnischer, niederländischer Kleinbetriebe.
Meine neue Bekannte Lera und ich suchen hier im Flüchtlingslager nach zwei Frauen, die mit der letzten Fähre aus Izmail angekommen sein sollen: Das “Rettungskommando”, das meine große Schwester Zhanna auf ukrainischer Seite über die Donau losgeschickt hat, um mich abzuholen. Denn ich habe mich, schock-getriggert durch den Krieg, auf den langen Weg von Kassel nach Izmail gemacht, um Zhanna endlich wiederzusehen – nach 20 sehnsuchtsvollen Jahren.
Die beiden mit meiner „Rettung“ beauftragten Frauen, Katya und Lena, sind Freundinnen aus Odessa – sie sind bei Zhanna in Izmail untergekommen, in einem der letzten Zipfel der Ukraine, wo es noch ruhig ist. Einen ganzen, eisigen Tag lang hat es gedauert, bis die neu eingerichtete Fähre die beiden von Izmail aus endlich auf die rumänische Flussseite gebracht hat – nach Isaccea zwar, statt, wie angekündigt, nach Tulcea, aber immerhin! Die Überfahrt selbst dauert nur zweieinhalb Stunden – aber alle bürokratischen, logistischen, und sonstigen Probleme müssen von improvisierenden Volontären gelöst werden. Nichts ist einfach.
Lera ist nach Tulcea gekommen, um ihre Partnerin Katya wenigstens kurz wiederzusehen – sie wurden auf der Flucht getrennt. Nun machten wir uns beide also in ihrem Auto von Tulcea aus auf den Weg in dieses kleine Grenzdorf, das nun zum Flüchtlings-Umschlagspunkt geworden ist. Lera zieht mich in eines der großen, beheizten Zelte: Hier sind Betten aufgebaut, Tische, Bänke; es ist nicht wirklich warm, aber wärmer als draußen. Kinder, alte Menschen, Familien kauern sich zusammen. Es ist nicht chaotisch, aber unruhig, belebt.
Katya und Lena finden wir abgekämpft vor, aber lächelnd. Der Grund ihrer Odyssee zu sein, ist mir unangenehm. Aber sie nehmen nichts übel, sondern alles mit Humor.
„Zhanna war panisch, klagte händeringend, allein würdest du bestimmt ausgeraubt, gekidnappt, verhaftet... <Bringt mir ja das Kind heil zurück>!”
- Kind…?!? Ich bin über 30. Ich könnte im Boden versinken, aber lachen muss ich doch. Zhanna!
Wir suchen online nach einem Übernachtungsplatz. Morgen wollen Katya, Lena und ich versuchen, uns per Fähre zurück in die Ukraine mitnehmen zu lassen. Solange wir hier im Lager sind, möchte ich mich am liebsten zusammenfalten, noch mehr als sonst; ich schäme mich, hier Platz wegzunehmen. Es ist nicht wirklich eng im Zelt, aber dennoch ist es mir unangenehm, wie eine von den Flüchtenden zu scheinen. Ich schlage den von Volontären angebotenen heißen Tee aus. Aber auch Lera hat sich bei ihrer Flucht vor einer Woche schlecht dabei gefühlt, den Tee anzunehmen: “Euch müsste man wärmen, ihr Armen!”, hatte sie den Volontären gesagt.
Unsere Unterkunft zur Nacht ist ein kleiner Bauernhof inmitten von zerzausten Feldern. Der Gastgeber ist extrem zuvorkommend, voller Anteilnahme; wieder stößt mir unangenehm auf, dass ich dieses Mitgefühl nicht verdiene.
Kaum ist das Gepäck abgeladen, stürzen sich alle der Reihe nach unter die heiße Dusche. Aus unseren gemeinsamen Snacks improvisieren wir ein mitternächtliches Bett-Picknick, reden, blödeln, der unvermeidliche Galgenhumor wird ausgepackt:
Julya, du brauchst es so sehr, von uns gerettet zu werden, wie wir von den Russen!
Lena, die ältere der beiden, ist Tierärztin in Odessa und hat einen 18-jährigen Sohn. Mehrere Grenzpunkte haben sie in den letzten Tagen abgeklappert - man lässt ihn nirgends durch. Wehrfähige Ukrainer im Alter von 18 bis 60 Jahren dürfen das Land nicht verlassen. Also hoffen sie nun, den Krieg in Izmail aussitzen zu können.
„Die ersten paar Tage hätten wir noch alle rausgekonnt“, erinnert sich Lena, „aber wir haben doch überhaupt nicht gerafft, was abgeht. Wir haben es einfach nicht wirklich begriffen.“
Lera drängt es schon wieder zurück in die Ukraine, obwohl sie erst vor einer Woche aus Odessa geflohen ist. Ihre Schwester ist bereits in München; sogar einen Arbeitsplatz als Keramikerin hat man Lera dort angeboten; – trotzdem.
“Ich ertrage dieses Im-Nichts-Hängen einfach nicht”, erklärt sie immer wieder.
Ich versuche, sie zu überzeugen: „So wird es nicht bleiben, es wird besser werden mit der Zeit...“
„Du hast erzählt, wie schmerzhaft es für dich war, Russland zu verlassen, und sagst mir jetzt, ich soll die Ukraine verlassen?“, hält sie mir entgegen.
„Ich wurde gegen meinen Willen verschleppt“, antworte ich, „du hast dein Schicksal selbst in der Hand, du kannst zurückkehren, wenn du willst, wann du willst.“
Lera antwortet nicht, aber sie schaut nachdenklich.
Der erste Schock des nächsten Morgens sind die buchstäblich über Nacht gestiegenen Benzinpreise - ich frage mich, wie das die hiesige Bevölkerung überhaupt stemmen kann. Rumänien, zumindest hier, strotzt nicht gerade vor Wohlstand. Der zweite Schock trifft deshalb umso mehr: Eine warme Mahlzeit ist in keiner Gaststätte aufzutreiben: Alles warme Essen wird unentgeltlich direkt für das Flüchtlingslager gekocht. Einmal mehr verblüfft mich die rumänische Hilfsbereitschaft. „Fast schon Selbstaufopferung“, denke ich.
In der kleinen Pizzeria, die wir schließlich etwas außerhalb des Dorfes auftreiben, verständigen wir uns mit Google-Übersetzer, Händen und Füßen. Der Krieg wird automatisch Grundlage jedes Gesprächs am Tisch.
“Sie haben recht, ehrlich gesagt. Ich kann sie verstehen”, meint Lera, als es um die nicht-europäischen Flüchtlinge geht, die sich teilweise verbittert zeigen, weil man ihnen weitaus weniger bedingungsloses Mitleid und Hilfsbereitschaft entgegenzubringen bereit war und ist, als den ukrainischen Flüchtenden; alle pflichten ihr bei.
Nach dem Essen will unsere Kellnerin unsere zusammengekratzten gemeinsamen Lei nicht annehmen: Ein älteres Pärchen am Nebentisch, das uns Russisch sprechen gehört hat, besteht darauf, unsere Rechnung zu bezahlen. Zunächst verstehen wir nicht; dann wehren wir nach Kräften ab, aber wir können niemandem klar machen, dass es wirklich nicht nötig ist. Gerührt und linkisch danken wir immer wieder: “Mulțumesc mulț! 1Vielen Dank!”, und lassen unser Geld schließlich einfach liegen.
Zurück im Lager sind die Grenzpolizist:innen zwar nicht sonderlich erfreut, dass wir zurückwollen, aber dagegen haben sie nichts. Wir sind nicht die Einzigen: Eine kleine gemischte Gruppe von Ukrainer:innen stellt sich ebenfalls an, um die Fähre zurück in die Heimat zu nehmen.
Katya ist es gelungen, ihre Partnerin Lera dazu zu überreden, es noch eine Weile in Rumänien auszuhalten. Das bedeutet, dass die beiden sich jetzt verabschieden müssen – jetzt. Hier. Zwischen ungeduldigen Grenzern, Polizisten, Fremden. Sie wissen nicht, wann sie sich das nächste Mal wiedersehen werden. Lena und ich wenden uns diskret ab, während sich die beiden umarmen, küssen, streicheln. Ich muss Tränen wegblinzeln. Dieser verdammte, verdammte Krieg.
Als ich Lera zum Abschied umarme, hat sie sich sichtlich nur mühsam unter Kontrolle; ihre Augen glänzen feucht, sie versucht ein Lächeln, das misslingt, während sie mir heiser aufträgt: „Pass gut auf diese beiden auf, ja?“
„Ja“, verspreche ich, und als ich weine, fallen ihre Tränen auch.
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