Jules‘ Reise in die Ukraine: Begegnungen in Tulcea

Teil II: Begegnungen unterwegs

Unsere Gastautorin, Jules, hat wegen der russischen Invasion in der Ukraine ihre russische Schwester in Izmail nahe Odesa besucht. Hier berichtet sie von ihrer bewegenden Reise.

Teil I verpasst? Hier lesen.

Manchmal, wenn ich wirklich darüber nachdachte, was ich da vorhatte – meine große Halbschwester nach 20 Jahren Trennung in Izmail, Ukraine, zu besuchen -, ging mir der Arsch auf Grundeis. Aber die Alternative – nichts zu tun als zu hoffen, jeden Tag den Liveticker zu aktualisieren, und damit zu leben, falls es zum Schlimmsten kommt…? Nein. Keine Option.

Der Plan: Von Berlin bis Bukarest fliegen; von Bukarest nach Tulcea mit dem Zug; von Tulcea bis Izmail sind es nur 20 Kilometer Luftlinie übers Moor. Der Schiffsweg den Donauarm hoch ist ausgeschlossen, der zivile Schiffsverkehr liegt dort still. Möglich wäre noch der Bus nach Isaccea – etwa 40 Minuten an der Donau hoch. Dort gibt es einen offiziellen Grenzübergang für Flüchtende; vom ukrainischen Orlivka auf der gegenüberliegenden Seite kommen täglich Hunderte an. Ob auch jemand wie ich in die entgegengesetzte Richtung reisen kann, in die Ukraine? Ob ich in Orlivka jemanden finden kann, der mich bis Izmail fährt?

Erste Begegnungen in Bukarest

In Bukarest übernachte ich bei einer Bekannten; sie beherbergt außerdem eine ukrainische Mutter mit traurigen Augen und ihr Baby. Ernst raunt sie mir entgegen: „Ich habe Angst um Sie!“ Aber sie verstehe das schon: Vor ihrer Flucht fuhr sie noch einmal nach Odessa rein, um das Grab ihres Vaters ein letztes Mal zu besuchen.

Am Hauptbahnhof in Bukarest dient die große Wartehalle als Quarantäne-Zentrum für Geflüchtete. Dass ein Supermarkt zum Auffanglager umfunktioniert wurde, merke ich erst, als ich nichtsahnend reinstolpere. Man spürt diesen Krieg überall in Rumänien – die erste Reaktion auf radebrechendes Rumänisch ist stets: „Ukraine?“, voller Anteilnahme. Händler:innen geben Rabatte, alle bemühen sich, nehmen sich Zeit, bieten ungefragt Hilfe an.

Wenige Mittel, große Herzen

Dieses Land ist selbst arm, man sieht es – aber seine Hilfsbereitschaft ist grenzenlos. Im Zug nach Tulcea unterhalte ich mich mit Händen, Füßen und Google-Übersetzer mit einer rumänischen Großmutter, die ihre Sonnenblumenkerne mit mir teilt. Als sie begreift, wo ich hinwill, schlägt sie das Kreuzzeichen über mir.

In der Bahnhofshalle fand Jules trotz der eisigen Kälte Palmen vor.
In der Bahnhofshalle fand Jules trotz der eisigen Kälte Palmen vor.

Endlich in Tulcea, warte ich stundenlang am eisigen Hafen auf eine gerade erst heute eingerichtete Fähre, die angeblich direkt von Izmail herüberkommen soll – es wäre ein kleines Wunder. Meine Schwester hat auf gut Glück zwei Freundinnen mitgeschickt, um mich “abzuholen”. Zum Aufwärmen flüchte ich mich in die benachbarte Bahnhofshalle – dort treffe ich eine fünfköpfige Flüchtlingsfamilie, der sich zwei junge Männer angeschlossen haben.

Einer von ihnen kann Rumänisch, man erfährt: Die Züge ins Landesinnere sind für Flüchtlinge kostenlos. Die Familie will nach Deutschland, obwohl sie dort niemanden kennt. Sie überschütten mich mit Fragen: Wäre Dänemark vielleicht besser? Werden wir Arbeit finden? Kriegen unsere Kinder eine Ausbildung? Ich bin überfordert, aber ich rufe meine Mutter an – sie arbeitet beim Sozialamt und erklärt geduldig, was sie kann.

Unterwegs mit leerer Umhängetasche

Einer der mitflüchtenden jungen Männer hat nur mitbekommen: Ich – Deutschland. Er räuspert sich laut. Mitte Zwanzig etwa, roter Vollbart, zu dünn angezogen. Nichts als eine flache, schmale Umhängetasche trägt er mit sich, sie sieht leer aus.

„Entschuldigen Sie!“, beginnt er, an mich gewandt. „Sagen Sie, wie genau haben Sie vor, nach Deutschland zu gelangen?“

Ich stottere. „Ich… äh… mit dem Flugzeug.“

„Ach?“ Die Verbitterung in seiner Stimme ist erstickend.
„Mit dem Flugzeug also… Fabelhaft, ganz fabelhaft.“

„Ich… äh… also, ich bin doch deutsche Staatsbürgerin.“

„Aha, fabelhaft… Sehr, sehr fabelhaft für Sie…“, nickt er zynisch.

Ich fühle die Tränen aufsteigen. „Ich wurde als Kind gegen meinen Willen dorthin verschleppt. Ich habe nie um diese Staatsbürgerschaft gebeten!“

„Sie wollten sie nicht?“ Er zieht ironisch die Brauen hoch.

Ich explodiere: „Nein, ich wollte bei Papa in Moskau bleiben!“

Es ist still. Die Mutter murmelt: „Ihr Vater ist in Moskau?“

Ich verschweige, dass er längst tot ist. „Ja, und meine Schwester ist in der Ukraine, und ich und meine Mutter sind in Deutschland. So eine Familie sind wir.“

Das Unangenehme der nachfolgenden Stille ist schwer auszuhalten.
Als es Zeit wird, sich zu trennen – die Familie muss zum Zug, die beiden jungen Männer in unbekannte andere Richtungen –, kommt der Rotbärtige auf mich zu und umarmt mich.

„Julya, lassen Sie uns einander alles Gute wünschen. Und mobilisieren Sie ihre Landsleute. Sagen Sie ihnen, sie müssen dem ukrainischen Volk jetzt helfen!”

Er hebt kämpferisch die Faust.

„Natürlich.“, stammele ich hilflos und schäme mich, ohne zu wissen, warum.

Eine Armada aus sperrigem Gepäck

Stunden später, es ist schon dunkel, wird die kleine Wartehalle von einer chaotischen Armada aus Wintermänteln, Hüten und sperrigem Gepäck gestürmt. Eine zehnköpfige Gruppe mittelalter Damen, aufgeregt reden sie auf Russisch wild durcheinander, schart sich um zwei herbeigerufene Polizisten. „English? Does anyone speak English – and Russian?1Englisch? Spricht irgendjemand Englisch – und Russisch?“, fragt der eine in den Raum, und ich melde mich. „Yes. Da.“

Sofort werde ich ins Zentrum des Geschehens gezerrt. Ein junges rumänisches Mädchen versucht dort bereits zu helfen, kann jedoch kein Russisch. Ich übersetze Russisch-Englisch und zurück.

„Wir können ihnen gratis Zugtickets besorgen, sogar Autos“, erklärt der Polizist. „Wenn sie im Land bleiben, helfen wir ihnen. Aber nur dann.“

Der Geräuschpegel der erregten Schar braust auf wie eine Brandung: „Wir wollen nach Hause! Wir wollen zu unseren Familien!“
Der Polizist kann oder will nicht verstehen, dass sie zurückwollen – zurück. In den Krieg hinein. Er scheint weniger erschüttert – eher sauer, angefressen, als hätte man ihn persönlich beleidigt.

„Warum wollen Sie zurück in die Ukraine?“ fragt er fast aggressiv.

„Unsere Kinder sind dort! Es ist unsere Heimat!“, eine vielstimmige Kakophonie, übereifrig zu erklären, was man nicht erklären müssen sollte. Sie waren im Urlaub in Ägypten, als der Krieg ausbrach. „Begreifen Sie – wir haben nichts als Badesachen im Gepäck, und kein Geld! Wie sollen wir hierbleiben?!“, fleht eine der ältesten Frauen fast weinend.

Zurück in die kriegszerstörte Heimat

Die Busfahrer nach Isaccea, dem nächsten offiziellen Übergang, verlangen Lei, was die Damen nicht haben. Ich übersetze, so gut ich kann, der Polizist schneidet mir ungeduldig das Wort ab: „Na schön! Wenn sie unbedingt wollen, sollen sie hinfahren! Nicht unser Problem!“ Damit verschwinden die beiden, ohne sich zu verabschieden. Aber ein rumänischer Fremder, der die ganze Zeit still im Hintergrund gestanden hatte, tritt vor: Er hat einen Achtsitzer und würde umsonst fahren, aber er kriegt nicht alle und das Gepäck mit. Er erklärt es der jungen Rumänin auf Rumänisch, sie übersetzt mir auf Englisch, ich den Damen auf Russisch. Der Fahrer telefoniert, mehrfach, lange. Er versucht, einen zweiten Wagen zu organisieren. Zweimal zu fahren steht für ihn außer Frage: Das Benzin ist seit dem Krieg so himmelschreiend teuer, dass er es sich schlicht nicht leisten kann.

Durch irgendein unerhörtes Wunder erreicht er schließlich jemanden, den die junge Dolmetscherin als “Mayor”2Bürgermeister von Tulcea bezeichnet. 20 Minuten später steht tatsächlich ein zweiter Wagen bereit. Ich bin fassungslos. Man verabschiedet sich unter Segnungen und überschwänglichem Dank. Das rumänische Mädchen – sie sieht aus, als wäre sie noch Schülerin – besteht darauf, dass ich ihre wortreiche Entschuldigung für den Polizisten übersetze.

“Nicht alle Rumänen sind so!”, versichert sie immer wieder.

“I know3Ich weiß”, beruhige ich sie. “I know.”

Graue Stadt, grauer Hafen, graues Wetter: Ein Eindruck aus Tulcea.
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Footnotes

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Eine Antwort zu „Jules‘ Reise in die Ukraine: Begegnungen in Tulcea“

  1. Peter Metz

    So unmittelbar dabei. Erschütternd.

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