Die “Kümmernden Katzen” aus Kyjiw

Die “Kümmernden Katzen” aus Kyjiw

Die Ohnmacht weicht dem Tatendrang: Trotz der Angst um das eigene Leben haben drei Frauen in Kyjiw eine Hilfsorganisation gegründet und helfen ihren Mitmenschen in der Ukraine.

Luftalarme zählen inzwischen zum ukrainischen Alltag. Traurigerweise. Doch immerhin bedeuten sie in der Hauptstadt Kyjiw nicht mehr, dass auch tatsächlich Geschosse einschlagen werden. Restaurants öffnen wieder ihre Türen, Metro-Stationen dienen zum Ein- und Ausstieg statt als Schutzräume. Seitdem sich die russischen Truppen zurückgezogen haben, versucht die Stadt, wieder Routinen zu entwickeln.

Ein trügerisches Bild

Solche Bilder erzeugen jedoch schnell ein trügerisches Bild. Den Eindruck einer Sicherheit, die nur relativ ist. „Die Leute verstehen nicht, wie wir uns fühlen“, glaubt Julia Sydorchuk. Raketen, die in der Nachbarschaft einschlagen, auf die Stadt zurollende Panzer – wer davon nicht betroffen ist, kann sich in diese Welt wohl nur schwer hineinversetzen. Auch wenn die alltäglichen Einschläge (vorerst) aufgehört haben, Militärfahrzeuge nur als ausgebrannte Metallgerüste im Speckgürtel Kyjiws zu besichtigen sind und die 33-Jährige mit ihren Freundinnen zum Gespräch in ein Restaurant in der Innenstadt einlädt – die Ungewissheit und die Angst bleiben. „Was ist unsere Zukunft?“, fragt Sydorchuk: „Jede:r hier versteht, dass der nächste Alarm unser letzter Moment sein kann.“

Allmählich realisiere sie, dass die Welt nun eine andere sei. Doch in Ohnmacht zu fallen, sei keine Option. Am dritten Tag der russischen Großoffensive hat die Anwältin deshalb mit ihren Freundinnen Ruslana Zahnii und Lilia Lypova die „Kümmernden Katzen“ (Turbotlyvi kotyky/Турботливі котики) gegründet, die in der Ukraine bereits als gemeinnützige Organisation anerkannt sind. Der Name zeigt auch die Unterstützung für die Soldat:innen, die sie liebevoll ZSU-Katzen (Kotyky ZSU/Котики ЗСУ) nennen; ZSU ist die ukrainische Abkürzung für die Streitkräfte (Zbroyni syly Ukrayiny/Збройні сили України).

Die Wohltätigkeitsorganisation
Die Wohltätigkeitsorganisation “Kümmernde Katzen” (Turbotlyvi kotyky – Турботливі котики) aus Kyjiw hilft Opfern im Ukraine-Krieg. Die Gründerinnen:Ruslana Zahnii (Руслана Загній), Julia Sydorchuk (Юлія Сидорчук) und Lilia Lypova (Лілія Липова).

Gründung aus dem Schutzkeller

Sie hätten schnell verstanden, dass auch im Land Hilfe organisiert werden müsse, schildert Lypova. Während sie selbst noch Schutz in den Kellern suchten, bauten die drei ihr Team von inzwischen mehr als 20 Aktiven im In- und Ausland auf und koordinierten die Unterstützung für ihre Mitmenschen. Als Lypova Ende April einen Transport in die Region Tschernihiv nordöstlich von Kyjiw in Richtung des Dreiländerecks mit Belarus und Russland brachte, sah sie selbst, wie misslich die Lage vielerorts noch immer ist:

Sie leben in Schutzräumen ohne Wasser, Essen, Medizin oder Gas. Es war kalt und wirklich schwierig.

Wichtig sei ihnen, wirklich benötigte Hilfsgüter in die Regionen zu bringen. „Wir kennen die Menschen, denen wir helfen und wissen, was sie brauchen“, betont Sydorchuk – und häufig angebotene Kleiderspenden zählten nicht dazu. Viel mehr würden benötigt:

  • (Haltbares) Essen
  • Decken
  • Medikamente
  • Medizinische Geräte wie Blutdruckmesser
  • Taktische Erste-Hilfe-Sets für die Armee

Leben ohne Routinen

Doch nach mehr als drei Monaten spürten auch sie die rückläufige Unterstützung aus dem Ausland. „Wir verstehen, dass jede Familie in Europa ihr Leben, ihre Probleme, ihre Kredite und täglichen Routinen hat“, sagt Lypova, ebenfalls Anwältin und Rechtswissenschaftlerin mit sechs Jahren Berufserfahrung im ukrainischen Parlament. Doch daran sei für Ukrainer:innen derzeit nicht zu denken:

Wir haben keine tägliche Routine. Wir haben keine Alltagsprobleme. Wir helfen einfach nur mit unserer Arbeit.

Ohne daran Geld zu verdienen, beschäftigten sie sich täglich damit, Bedarfe herauszufinden, Hilfe zu organisieren und den Transport bei Treibstoffmangel und den Gefahren in den umkämpften Gebieten zu bewerkstelligen. „Wir sind auch müde“, betont sie; gleichzeitig fühle es sich so an, als würden sie nicht genug unterstützen. Umso bedeutender sei es, Unterstützung von den Freund:innen und Partner:innen zu erfahren. „Wir fühlen uns als Teil der europäischen Familie und hoffen, dass sie sich auch um uns als Teil ihrer Familie kümmert“, sagt Lypova.

Hilfe für die Soldat:innen

Die drei Gründerinnen der „Kümmernden Katzen“ verstehen es daher auch als ihre Aufgabe, im Land zu bleiben. „Unsere Brüder und Männer gehen und kämpfen“, sagt Zahnii, die im Marketing für einen Drohnenhändler arbeitet.

Jemand müsse die Soldat:innen daher mit Essen, Kleidung und Ausrüstung abseits von Waffen versorgen. Sie verteidigten das Land „unserer Kinder und Zukunft“ ebenso wie Europa vor weiteren Aggressionen Putins – und hätten immerhin schon erreicht, dass zumindest Kyjiw wieder Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Frieden schöpfen kann. „Wir haben wieder ruhige Nächte, in denen wir schlafen können“, sagt sie und schiebt hinterher „in denen wir nicht alle paar Stunden in den Schutzkeller gehen müssen.“

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