Juli Karzanova berichtet aus Tschernihiw: “Wir sterben hier: völlig ohne Grund”

“Wir sterben hier: völlig ohne Grund” – Augenzeuginnenbericht aus Tschernihiw

Seit mehreren Wochen ist die ukrainische Stadt Tschernihiw nahe der Grenze zu Belarus ununterbrochen russichen Angriffen ausgesetzt. Juli Karzanova ist geblieben und berichtet vom Alltag im Krieg.

Eingesprochen von Niklas GolitschekJuli Karzanova im Gespräch über den Kriegsalltag in Tschernihiw (auf Englisch)
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Übermedien hat es bereits thematisiert: Auf TikTok ist der Krieg präsent, in typischem Stil mit Musik und schnellen Schnitten, mit Text und großen Gesten begleiten junge Menschen hier ihren Kriegsalltag, lassen andere Menschen teilhaben. Mit Sarkasmus und Humor überleben sie. Einige von ihnen haben inzwischen ihre Flucht dokumentiert, zeigen den Krieg nur noch im Rückblick. Zwischen all den bunten Videos gibt es eine, die nicht schönt oder kaschiert, die keine Energie mehr hat für Form und Design.

Dabei war genau das bis vor Kurzem ihr Beruf. Juli Karzanova ist 30 Jahre alt und Künstlerin. Sie war auch vor dem Krieg schon in den sozialen Medien aktiv, verkaufte Kunstdrucke über Facebook und Instagram. Heute postet sie auf Instagram und Facebook keine Kunst mehr, sondern nackte Realität oder in, eigenen Worten: “die Wahrheit über das, was hier passiert.” Auf Instagram folgten ihr vor dem Angriffskrieg auf die Ukraine gerade einmal 600 Interessierte, heute sind es mehr als 20000.

Drastischer Themenwechsel auf Instagram. Juli Karzanovas sogenannten Highlights enthalten nur mehr Kriegsthemen.

Dabei war der Auslöser für ihre Berichterstattung ein privater; eine Freundin, die in London lebt. Sie schrieb ihr: “Juli, you have to visit London because Ukraine is so shit now.” Diese Aussage habe sie getroffen. Seitdem berichtet sie von dem, was sie erlebt, dem Alltag mitten im Krieg. “Ich bin die einzige Person, die hier aus Tschernihiw auf Englisch berichten kann.” So sei das ihre Mission geworden:

Meine Fähigkeit, Englisch zu sprechen, hat mir geholfen, Aufmerksamkeit zu bekommen und Aufmerksamkeit aus vielen Ländern zu bekommen.

Auch das sei schwierig für sie. Sie habe nie berühmt werden wollen, es seien viel zu viele Menschen und es gebe auch teilweise ganz schön aggressive Reaktionen auf ihre Beiträge. Die Mehrheit der Reaktionen sei allerdings positiv: “Ich hätte nie gedacht, dass ich so viele Seelenverwandte auf der ganzen Welt habe.”

Ich entdecke sie mehrmals. Ihr Gesicht ungeschminkt, die Haare mal unter einer Mütze versteckt und mal in alle Richtungen abstehend, die Augen direkt in die Kamera gerichtet, ihre Worte: klar und deutlich. Das erste Video, das ich mir von Juli Karzanova merken kann, ist eines, in dem sie demonstriert, wie sie sich ohne (fließendes) Wasser die Haare wäscht.

In den letzten Wochen gab es einmal für wenige Stunden fließendes Wasser; sie berichtet auch darüber auf ihren Socialmedia-Kanälen; es ist eins der wenigen Videos, in dem man sie lachen sehen kann.

Doch am nächsten Tag schon sei das Wasser wieder weggewesen, berichtet sie uns später im Interview. Das Gespräch hätte eigentlich per Zoom stattfinden sollen. “Morgen habe ich mein iPad am Strom zwischen 9 und 10 Uhr 30. Da können wir einen Videocall machen”, schreibt sie am Vorabend.

Doch dann ist auch am nächsten Morgen kein Strom da, wo sie sonst einigermaßen regelmäßig ihre Geräte laden konnte. Mehrere ihrer bisherigen Videos zeigen sie an einem Kabelsalat an einem brummenden Generator. “Es lädt extrem langsam”, kommentiert sie. Es ist schwer, unter den aktuellen Umständen Kontakt zur Außenwelt zu halten oder überhaupt untereinander zu kommunizieren.

“Es gibt so viele Menschen hier, die kein Internet haben, niemand weiß, wie es ihnen geht. Viele haben kein Essen, kein Trinkwasser”, schildert die 30-Jährige, die im Ausnahmezustand von der Künstlerin zur freiwilligen Helferin im eigenen Land wurde.

“Manchmal finden wir eine Sekunde, um zu lächeln zwischen den Geräuschen von Bomben und Explosionen”, sagt sie. Das Schlimmste seien aber nicht die Angriffe an sich, die Geräusche der Explosionen, sondern der Umstand, dass sich die Menschen daran gewöhnt hätten: “Und wir finden es irgendwie in Ordnung.” Sie finde keine Worte dafür, wie verletzt sie alle seien. Sie beschreibt Menschen, deren Zuhause bombardiert worden sei, die nirgends mehr hätten, wohin sie gehen könnten: “Die Hoffnung aus ihren Augen ist verschwunden.”

Sie selbst halte sich für ziemlich stark und vorbereitet, da ihr Leben vorher auch schon ein ziemlicher Kampf gewesen sei, sie habe schon viele Jahre unter schwierigen Bedingungen gelebt: “Aber natürlich kann man nicht darauf vorbereitet sein, vielleicht bald zu sterben.”

Sie hat eine große Bitte im Gespräch an uns: "Vergesst uns nicht. Bitte, vergesst uns nicht.” Sie würden völlig ohne Grund sterben nur wegen eines verrückten Mannes. “Er wird nicht aufhören, das weiß ich”, sagt sie.

Diese Nachrichten erreichen mich in der Nacht nach dem Interview. Mit einem Mal rückt der Krieg noch näher.

Wie man aktuell über Aufmerksamkeit-schenken hinaus helfen kann? Sie meint, sie könne die Frage derzeit nicht beantworten: “Ich traue keinem.” Letztlich liege derzeit alles auf den Schultern freiwilliger Helfer:innen. Falls es eine Möglichkeit geben werde, würde sie das über die sozialen Medien kommunizieren.

Wer Karzanovas Informationen folgen möchte, findet sie auf Instagram und Facebook als “female on acid” bzw. @femaleonacid. Ihre Freundin Natalia Gołąbek stellt ihr die eigene Reichweite auf TikTok zur Verfügung, ihren Kanal findet man unter @tolka8485.

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