“Unterkunft Ukraine”: Hunderttausende Schlafplätze bleiben ungenutzt

Mehr als 360.000 private Schlafplätze für ukrainische Geflüchtete stehen in der Datenbank von Unterkunft Ukraine zur Verfügung, über betterplace.org wurden mehr als 200.000 Euro eingesammelt. Das Projekt wird vom Bundesinnenministerium beworben. Wie viele der Schlafplätze bereits vermittelt wurden, ist allerdings unklar. Die Verantwortlichen sprechen von “Tausenden” und davon, dass sie bislang nicht erfasst hätten, wie viele Unterkünfte vermittelt worden seien. Berliner Hilfsorganisationen kritisieren derweil die Untätigkeit der Projektverantwortlichen und, dass sie Unterstützungsangebote nicht annähmen.

Es ist Donnerstag, der 24. Februar, der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine. Lukas Kunert, der eine enge Verbindung zu dem Land spürt, in dem er seine Frau kennengelernt hat, will handeln, etwas für die Menschen tun, die nun flüchten müssen. Nur wenige Stunden später ist die Idee für “Unterkunft Ukraine” geboren: eine Plattform für private Unterkünfte, die geflüchteten Menschen in Deutschland kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bereits am ersten Tag ist die Resonanz groß, innerhalb der ersten drei Tage bieten Freiwillige wird eine fünfstellige Bettenzahl an. “Wir waren überwältigt von der Resonanz und es war klar: Das können wir nicht einfach so alleine stemmen”, schildert Kunert, der mit seinem Start-up Elinor nicht im Bereich von Wohnungsbörsen tätig ist. Er sucht sich Partner für seine Idee. 

Auf der ukrainischen Seite der Grenze. Der polnische Grenzort Medyka liegt nur wenige Kilometer entfernt von der wartenden Menschentraube. Viele der Menschen, die hier noch darauf warteten, das Kriegsland zu verlassen, sind inzwischen in Deutschland angekommen und suchen eine Unterkunft. Foto: Lena Reiner

An jenem dritten Tag findet ein erstes Gespräch mit Felix Oldenburg statt. Der ist im Vorstand der gemeinnützigen gut.org AG,bietet seine Unterstützung an und sagt: “Es war klar: Das Projekt braucht einen gemeinnützigen Träger. Da geht es auch um Glaubwürdigkeit.” Er habe das mit seinen Mit-Vorständen abgeklärt, diese hätten zugestimmt. Nun hat das Projekt also einen gemeinnützigen Träger, etwas mehr als eine Woche später folgt eine offizielle Kooperation mit dem Bundesinnenministerium. Inzwischen übernimmt der Versicherungsanbieter “ERGO” Haftpflichtversicherungen für alle, die über “Unterkunft Ukraine” eine Bleibe finden. Projektinitiator Lukas Kunert gibt Interviews in vielen großen Medien, ändert seine Mailboxansage ab, dass er keine Nachrichten mehr abhöre, ist telefonisch schwer erreichbar, Oldenburg spricht von einem „viralen Effekt“.

Vermittlungen bleiben hinter den Erwartungen zurück

Was ist inzwischen aus den vielen angebotenen Betten geworden? Oldenburg räumt ein, dass es da einen “Rückstau” gibt, der abgearbeitet werden müsse. Wie viele Unterkünfte inzwischen vermittelt worden seien? Oldenburg erklärt: “Also man muss die Zahl der Unterkünfte ja immer mit drei multiplizieren, da durchschnittlich drei Personen untergebracht werden.” Doch welche Zahl genau mit 3 multipliziert werden solle, kann er dann nicht sagen. “Wir haben anfangs nicht notiert, wie viele Menschen vermittelt wurden. Das stand einfach nicht im Fokus; es war eine Notsituation.” Auch von den Partnerorganisationen würden die Daten aktuell nicht durchweg erfasst, derzeit sei ein Tool dafür in Arbeit, damit in Zukunft verlässliche Zahlen vorlägen. “Tausende” seien es jedenfalls, sagt Oldenburg und entschuldigt sich für die “unbefriedigende” Antwort.

Sebastian gehört zu denen, die eine Unterkunft über “Unterkunft Ukraine” zur Verfügung stellen wollen. Am 9. März hat er diese online registriert, erhielt daraufhin eine automatisierte E-Mail. “Seitdem habe ich nichts mehr gehört”, sagt er. Am selben Tag habe er dieselbe Unterkunft auch über “www.warmes-bett.de” angeboten – von dort seien zwischenzeitlich drei Anfragen gekommen.

Wieso der Fortschritt hinter den großen Erwartungen zurückbleibe, die offenbar an sie gestellt wurden, begründet Oldenburg unter anderem mit den hohen Sicherheitsstandards, die sie anlegten. Das verlangsame den Prozess. “Uns war sofort klar, dass Sicherheit an erster Stelle stehen muss. Wir vermitteln Frauen etwa nur an Frauen”, schildert er. Doch waren die Standards tatsächlich von Beginn des Projekts an so hoch?

Anfänge des Projekts mit mangelnden Sicherheitsstandards

Das Team von Unterkunft Ukraine startete mit der Vermittlung trotz digitaler Datensammlung komplett analog – mit Wohnungsangeboten auf Pappschildern am Berliner Hauptbahnhof. Oldenburg erläutert: “Anfangs kamen Geflüchtete ja vor allem in Berlin an und es wurde noch nicht umverteilt, daher konzentrierten wir uns anfangs auf Berlin.”

Christian Lüder vom Netzwerk Berlin hilft erinnert sich an die Wohnungsvermittlung per Pappschild am Hauptbahnhof zurück oder vielmehr: ihr Vorspiel. “Wir bekamen eine E-Mail, die wir zuerst für einen Betrugsversuch hielten; ein Hilferuf von Elinor, dem Mitbetreiber von Unterkunft Ukraine, der darum bat, mit Wohnungsangeboten auf Pappschildern zum Hauptbahnhof zu kommen”, schildert er.

Die E-Mail enthielt auch eine Bitte um Weiterleitung, so dass sie einen unbekannt großen Personenkreis erreichte. Diese Vorgehensweise hätten sie – er und die Vertreter weiterer Initiativen, die seit 2015 Geflüchtete unterstützen – zum damaligen Zeitpunkt bereits für absolut indiskutabel und unsicher gehalten und dementsprechend gewarnt: “Es wurde nicht einmal notiert, wer von wem mit nach Hause genommen wurde.” 

Tatsächlich kam es, wie befürchtet, zu unschönen Erlebnissen für die Geflüchteten. Die Bundespolizei musste “dubiosen Männern” Platzverweise erteilen, die versuchten, Frauen und Kinder zu sich nach Hause zu locken, teilweise dafür sogar Geld boten. (Die Autorin berichtete über Vorfälle am Hauptbahnhof.) So endete die Wohnungsvermittlung per Pappschild nach wenigen Tagen wieder.

Projektverantwortlicher: „Wir haben dazugelernt.“

Mit dieser Darstellung konfrontiert kommentiert Oldenburg: “Ich war am Hauptbahnhof, das war sehr eindrucksvoll, was sich da abspielte. Ich habe dort aber auch mit der Bundespolizei und der Berliner Polizei gesprochen, die den ein oder anderen herausfischen musste und einen Platzverweis erteilte, und habe dazugelernt.” So hätten sie ein Ident-Verfahren etabliert, ohne Ausweis könne sich kein Unterkunftgeber mehr auf ihrer Plattform registrieren. Außerdem würden Schlafplätze nie rein digital, sondern immer unter Einbindung von Hilfsorganisationen oder Ehrenamtlichen von “Unterkunft Ukraine” vermittelt; idealerweise sei bei jeder Übergabe eine dritte Person anwesend: “Die Vorgehensweise ist einzigartig.” Bisher sei ihm kein digitales, automatisiertes Modell bekannt, das einen so hohen Sicherheitsstandard für die Beteiligten gewährleisten könne. Aktuell sei daher ihr Ziel, Hilfsorganisationen, die vor Ort etabliert seien, ihre Daten zur Vermittlung zur Verfügung zu stellen.

Durch die Zusammenarbeit mit dem BMI seien zudem Kommunen über ihr Projekt informiert worden, rund 50 hätten sich bereits zurückgemeldet, um zu kooperieren. “Wenn sich eine digitale Lösung findet, kann sich unser höheres Ziel aber auch ändern. Wir lernen stetig dazu. Hätten wir dieses Gespräch vor einer Woche geführt, wäre es auch ganz anders verlaufen”, betont Oldenburg. Zum aktuellen Zeitpunkt würde er die Frage allerdings bejahen, dass es sich beim höheren Ziel ihres Angebots um einen “Datenhub” mit Sicherheitsprüfung und keine komplette Vermittlungsleistung handle. Aktuell seien sie situationsbedingt immer wieder selbst vermittelnd aktiv; etwa in Form einer Hotline. Das solle aber nicht dauerhaft fortgeführt werden: “Das ist nicht die Strategie, dass wir das alles selber machen.”

Daher sei seit der Pappschildaktion am Berliner Hauptbahnhof die Zusammenarbeit mit Organisationen ausgebaut worden, die im Namen von “Unterkunft Ukraine” Betten vermittelten, schildert Oldenburg. Bei der Nachfrage zur Anzahl an Kooperationspartnern in Berlin kommt er kurz ins Straucheln: “Es sind zwei, mit denen wir laufend zusammenarbeiten, aber wir haben weitere angefragt. Ich müsste den aktuellen Stand erst abklären, da ändert sich alle paar Tage etwas. Berlin ist immer sehr unübersichtlich.”

Berliner Hilfsorganisationen kritisieren mangelhafte Zusammenarbeit

Auch an Lüder haben sich Vertreter von “Unterkunft Ukraine” gewandt, um mit seiner Initiative zusammenzuarbeiten: “Leider ist trotz zwei langer Gespräche nichts passiert.” Seit knapp einer Woche warteten sie nun auf die versprochene Kooperationsvereinbarung, um für “Unterkunft Ukraine” aktiv zu werden und Unterkünfte zu vermitteln. Auch von der versprochenen Handlungsanweisung, wie die Vermittlung der Unterkünfte datenschutzkonform und sicher ablaufen solle, fehle im elektronischen Postfach der Initiative jede Spur, schildert er am Samstagabend. Ähnliches erlebten auch die Vertreter weiterer Berliner Hilfsorganisationen.

In einem offenen Brief wenden sich diese nun an die Macher von “Unterkunft Ukraine”. Gemeinsam bieten sie ihre Unterstützung für das Projekt an und mahnen eindringlich, diese auch anzunehmen. “Es geht hier nicht um euch oder uns, es geht um Menschen, die dringend sichere Schlafplätze brauchen”, heißt es in dem Schreiben und weiter: “Wir haben eine Extremsituation, wir erwarten massiv steigende Zahlen von Geflüchteten, wir können es uns nicht leisten, Geflüchteten Schlafplätze vorzuenthalten, weil man zu stolz ist, sich helfen zu lassen.”

Fragen wirft indes auch die Finanzierung des Projekts auf. Die Kooperationsvereinbarung, die der Autorin dieses Artikels vorliegt, umfasst etwa den Passus: “Jede Partei trägt die durch die Tätigkeiten im Rahmen dieser Kooperation entstehenden Kosten selbst.” Oldenburg erläutert, dass die rund 200.000 Euro, die per Crowdfunding gesammelt wurden, für die Erstattung von Reise- und Technikkosten ihres eigenen Teams gedacht seien, aber vor allem für die Zukunft: “Uns ist früh klar geworden, dass wir hier über einen Schatz verfügen. Wir möchten das verstetigen, da wir denken, dass Menschen, die einmal Wohnraum zur Verfügung stellen, das vielleicht auch wieder tun würden. Stellen Sie sich vor, was das etwa auch bei der Flut im Ahrtal hätte beitragen können oder in anderen Krisen.” So solle nun eine eigene Gesellschaft ausgegründet werden mit einem kleinen hauptamtlichen Team.

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