Geflüchtet aus der Ukraine: “Ich habe keine Tränen mehr.”

Eugene und Kristina stehen vor einem Heizpilz und halten die Hand.

Kristina und Eugene erzählen von ihrer Flucht aus der Ukraine, wieso er das Land verlassen durfte und wie es nun weitergehen soll.

Eugene und Kristina sind in Sicherheit. Endlich. Anfang März, tief in der Nacht, steht das Paar im slowakischen Ubľa nahe der ukrainischen Grenze an einem Heizpilz. Durchgefroren halten sie ihre Hände nahe an das warme Metall, in diesen Moment der Rast und Ruhe. Auf der anderen Seite der Grenze warten zu diesem Zeitpunkt noch Verwandte der beiden, um diesen sicheren Ort zu erreichen. Seit sechs Stunden stehen sie in der Schlange.

Flucht aus der Ukraine voller Unsicherheiten

Wie nervenaufreibend diese Flucht ist, schildert Kristina eindrücklich. Als Frau könne sie das besser ausdrücken als ihr Mann, sagt sie. Bis zu dieser Frage hat vor allem Eugene das Wort, beschreibt die Zustände in der Hauptstadt Kyjiw und die weiteren Pläne der Familie. Nun übernimmt sie. „Wir sind fünf Stunden im Stau gestanden, um 40 Kilometer zu schaffen“, erzählt sie von der Fahrt. Doch auf diesem Weg spielt nicht nur der Faktor Zeit eine bedeutsame Rolle. Denn:

Du merkst, dass die Tankanzeige langsam sinkt – und du betest, dass du nicht irgendwo im Nirgendwo stehen bleibst.

Kristina

ist aus Kyjiw geflüchtet

In so einem Moment zähle nur, irgendwie die nächste Tankstelle zu erreichen. Von denen angesichts des Krieges einige nicht mehr in Betrieb sind. Und die derzeit Hunderttausende Flüchtende ansteuerten. „Wir haben sogar an der Tankstelle geschlafen, nur um sicherzugehen, dass wir morgens etwas bekommen“, erzählt Kristina. Die Lage an diesen Hotspots beschreibt sie als dramatisch:

Die Menschen würden für einen Liter töten.

Dennoch hat die Familie eine Route gewählt, die deutlich länger und umständlicher durch die Ukraine führt; von Kyjiw bis Ubľa Sie hätten darauf spekuliert, dass der Andrang hier geringer sei als an der westlichen Grenze, sagt Eugene.

Der Krieg kommt immer näher

Aus der ukrainischen Hauptstadt flüchtet das Ehepaar gleich zu Kriegsbeginn, als keine zwei Kilometer von ihrem Zuhause eine Rakete in ein Hochhaus einschlägt. Bereits zuvor bekommen sie Angriffe auf einen Militärflughafen in rund 30 Kilometern Entfernung mit, in dessen Nähe Eugene arbeitet. „Wir sind von diesem grauenhaften Lärm aufgewacht“, erzählt Eugene; dennoch hätten Freunde in Russland ihnen Lügen unterstellt. Zunächst fahren Kristina und Eugene mit ihren Familien in einen Vorort nur wenige Kilometer entfernt und verbringen dort rund eine Woche. „Aber mit der Zeit sind die russischen Truppen immer nähergekommen“, erzählt Eugene.

Zuerst hören sie von Kämpfen rund 40 Kilometer entfernt, dann 30 und dann 20. „Die Situation war wirklich schrecklich“, führt er aus. Sie können zwar nicht sagen, aus welcher Richtung die Kämpfe kommen – doch sie sind deutlich hörbar. Deshalb will Eugene weiter weg, nun reist die Familie ins rund 800 Kilometer entfernte Mukatschewe am Dreiländereck Ukraine-Ungarn-Slowakei. „Wir sind drei Tage lang gefahren“, erzählt er. Drei Nächte verbringen sie dort und machen sich schließlich in Richtung des kleineren Grenzübergangs bei Ubľa auf.

Der Pass ermöglicht Eugene die Flucht

Dass Eugene über die Grenze darf, hat er seinem bulgarischen Pass zu verdanken. Da er als Logistikunternehmer für Luftfracht mehrere Standorte betreibt, hat die Familie in Budapest einen Startpunkt und muss nicht bei Null anfangen. Von der Flucht erzählt Eugene distanziert, das hänge auch mit den schwierigen beruflichen Erfahrungen der vergangenen Jahre zusammen. „Es ist wie eine neue Situation, der ich mich stellen muss“, sagt der 29-Jährige.

Von außerhalb könne er auch die Armee besser unterstützen als an der Waffe, mit der er keine Erfahrungen habe. Die Ukraine zu unterstützen sei ihm grundsätzlich sehr wichtig, betont er. Er versuche auch andere davon zu überzeugen, für das ukrainische Militär zu spenden. Einfach ist das nicht immer. Eine Geschäftspartnerin in Russland, die er seit drei Jahren kennt und die er auch schon mehrfach persönlich getroffen hat, traut dem Staatsfernsehen mehr als seiner persönlichen Schilderung. “Ich habe ihr ein Video gezeigt von dem zerstörten Wohnhaus in unserer Nähe. Sie meinte, das sei doch Fake, obwohl ich ihr sagte, dass ich das Video selbst gemacht habe und sie mich kennt!”

Täglich Tränen

Kristina steht geduldig daneben. Wie die beiden so ruhig wirken können? Ruhig sei sie nicht, wirft die Spanischlehrerin ein. „Die letzten zwei Wochen habe ich jeden Tag geweint“, sagt sie; zum Zeitpunkt des Gesprächs dauert der Krieg ebenso lang. Noch nie sei sie so nervös gewesen. Dass sie nun ruhig wirke, habe nur einen Grund:

Ich glaube, ich habe keine Tränen mehr. Ich kann keine Nachrichten mehr sehen, weil jede schlimmer als die vorherige ist. […] Wenn du hier ankommst und die Bomben nicht mehr hörst, ist das magisch.

Doch selbst zuschlagende Türen ließen sie nun zusammenzucken und der erste Impuls sei, zu rennen. Mit zittriger Stimme erzählt sie etwa von Angriffen auf Schulen und Krankenhäuser in Mariupol und anderen Orten, klammert ihre Hand fest an Eugenes. Doch Tränen laufen der 27-Jährigen tatsächlich nicht mehr über die Wange.

Eugene und Kristina stehen vor einem Heizpilz und halten die Hand.
Eugene und Kristina stehen vor einem Heizpilz und halten die Hand. Foto: Lena Reiner

Beitrag veröffentlicht am März 25, 2022

Zuletzt bearbeitet am März 25, 2022

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