Für die Arbeiter:innen in der Türkei habe sich das Leben in den vergangenen Jahren zunehmend verschlechtert. Der Gewerkschaftsverbund Disk sieht dafür Präsident Erdoğan in der Verantwortung – und hofft auf Veränderung.
Wirtschaftlich steht die Türkei so schlecht da wie lange nicht. Dabei wirkte es lange so, als habe Präsident Recep Tayyip Erdoğan in seinen mehr als 20 Jahren an der Macht einen kontinuierlichen Aufschwung ermöglicht, den Wohlstand vieler Menschen erhöht und die Infrastruktur verbessert. Doch vor der Wahl am Sonntag bröckelt dieses Gebilde, für das die Profiteur*innen die staatlichen Repressionen schweigend hingenommen hatten. Drei Kennzahlen:
Kıvanç Eliaçık führt diese Entwicklungen auf die Handlungen des Präsidenten persönlich zurück. Er ist bei der linken Konföderation der Revolutionären Arbeitergewerkschaften der Türkei (Türkiye Devrimci İşçi Sendikaları Konfederasyonu, DİSK) Direktor der Abteilung für Internationale Beziehungen. „Das präsidentielles Regierungssystem hat den Arbeiter:innenrechten und der Wirtschaft schwer geschadet“, sagt der 42-Jährige. Die Türkei sei zwar noch nie ein Sehnsuchtsort für die Arbeiter:innenklasse gewesen. Doch insbesondere in den vergangenen fünf Jahren hätten sich die Arbeits- und Lebensbedingungen deutlich verschlechtert.
Mit den politischen Inhalten habe er sich deshalb im Wahlkampf nicht wirklich auseinandergesetzt. Erst auf einem Flyer, den er kürzlich in die Hand gedrückt bekam, habe der Disk-Direktor erfahren, dass das Oppositionsbündnis um den Kandidaten Kemal Kılıçdaroğlu Pläne gerade auch zum Thema Wirtschaft vorgelegt hat. „Die Hauptsache ist, dass er verspricht, das präsidentielle System abzuschaffen“, unterstreicht Eliaçık.
Als gravierendstes Problem bewertet der Gewerkschafter die umfassenden Befugnisse des Machthabers. Ob beim Istanbuler Flughafen, einer neuen Bosporus-Querung oder Gesundheitsreformen – stets der habe der Präsident gegen die Bedenken der Expert:innen gehandelt. Vergangenes Jahr sogar die Verhandlungen der türkischen Mindestlohnkommission torpediert und den Satz eigenmächtig festgelegt und dabei die gesetzlich vorgeschriebene Vorgehensweise komplett ignoriert; der Präsident sei beim Thema Mindestlohn eigentlich überhaupt nicht involviert, der Wirtschaftsminister verkünde normalerweise das Ergebnis der Verhandlungen. „Das präsidentielle System ist nicht transparent“, bemängelt Eliaçık.
Beim Erdbeben im Süden des Landes seien die Folgen dieses Systems offensichtlich geworden. Erfahrene Kräfte und vor allem auch Fahrzeuge und Flugzeuge – teilweise aufgrund vernachlässigter Wartung – für die Rettungseinsätze und Notfallmaßnahmen hätten gefehlt, hätten teuer von privaten Firmen angemietet werden müssen:
Für mehr als ein Jahrzehnt hat er öffentliche Gelder für seine Belange verschwendet. Er hat staatliche Strukturen wie den Roten Halbmond zerstört und öffentliche Institutionen privatisiert.
Ein weiteres Problem sei die Intransparenz des Systems. Noch nicht einmal der fiktive Warenkorb zur Berechnung der offiziellen Inflation sei einsehbar; verglichen sie mit ihren Erfahrungswerten wirkte der errechnete Wert zu niedrig. Disk reagierte darauf mit einem Banner und fragte die zuständige Behörde: „Hey Türkstat, wo geht ihr einkaufen?“ Nach einem einjährigen Aufenthalt in den Niederlanden zahle er selbst für eine dreimal kleinere Wohnung nun den dreifachen Preis, sagt Eliaçık. Selbst die Erhöhung des Mindestlohns um mehr als 50 Prozent sei geringer als die jüngsten Preissteigerungen.
Auf öffentliche Proteste reagiere der Staat mit Verhaftungen. „Wir kennen die Unterschiede zwischen Verhaftung, Arrest, Hausarrest und willkürliche Verhaftung ziemlich gut“, merkt Eliaçık ironisch an und vergleicht das mit verschiedenen Windtypen, die jemand kenne, der in einer Gegend voller Wirbelstürme lebe. Dennoch seien viele Menschen bereit, diese Risiken auf sich zu nehmen, um für ein besseres Leben zu kämpfen.
Als eines der größten Probleme, das die nächste Regierung angehen müsse, nennt Disk-Rechercheurin Deniz Beyazbulut die Jugend- und Frauenarbeitslosigkeit. „Bisher wurden die Zahlen künstlich gesenkt, das Problem aber nur verschoben“, sagt sie. Eine weitere Herausforderung sei, dass viele Arbeitsuchende überqualifiziert für die verfügbaren Jobs im Land seien. Zudem fehlten Perspektiven. „Aber wir bauen weitere Universitäten und Fakultäten“, kritisiert sie eine fehlgesteuerte Planung.
Die junge Generation müsse besser an handwerkliche Arbeiten herangeführt werden. Für Frauen müsse es außerdem attraktiver werden, das Haus zu verlassen; es fehlten öffentliche Kindergärten. Stattdessen werde beworben, dass sich die Omas um die Enkel kümmern sollten; dafür gebe es sogar ein staatliches Taschengeld, auch wenn das sehr gering ausfalle. Zudem brauche das Land eine Reform der Lohnpolitik und einen den einzelnen Industriezweigen angepassten Mindestlohn.
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.