Politikwissenschaftler erklärt, welche Chancen Trump für die Ukraine bringt

Aus einer Wand ragt die rote Skulptur einer vermummten Gestalt und zeichnet das Wappen der Ukraine in roter Farbe.

Donald Trumps Wahlerfolg verunsichert die Verbündeten der USA. Politikwissenschaftler Olekandr Kraiev sieht jedoch auch Chancen für die Ukraine unter Trumps Präsidentschaft.

Listen to the audio version of this article (generated by AI).

Inmitten ihres Überlebenskampfes steht die Ukraine vor einer neuen Faktenlage mit ungewissem Ausgang: Donald Trump hat die US-Präsidentschaftswahl für sich entschieden und wird am 20. Januar 2025 ins Weiße Haus einziehen. Hinzu kommt der Kollaps der Ampel-Koalition in Deutschland.

Oleksandr Kraiev trägt einen schwarzem Anzug und Krawatte sitzt da und hält ein Buch in der Hand. Er trägt eine Brille, hat kurze Haare und einen gestutzten Bart.

Oleksandr Kraiev. Foto: Privat

Für die Ukraine tritt damit ein Szenario ein, das ihre Vertreter:innen eigentlich vermeiden wollten, sagt Politikwissenschaftler Oleksandr Kraiev. Er leitet das Nordamerika-Programm bei „Ukrainian Prism“, einem Thinktank für Außenpolitik in Kyjiw. Mit unvorhersehbaren, unlogisch handelnden und inkonsistenten Partnern lasse sich nur schwer zusammenarbeiten – und genau dafür steht Trump. Für die Ukraine bedeutet das eine unangenehme Ausgangslage. „Besonders, weil Verhandlungen bevorstehen und all diese Themen auf den Verhandlungstisch kommen werden“, sagt Kraiev mit Blick auf mögliche Gebietsabtretungen für Sicherheitsgarantien; Termine für solche Verhandlungen sind noch nicht in Sicht.

Widersprüchliche Narrative

Wie der künftige US-Präsident hinsichtlich des Krieges einzuschätzen ist, lässt sich für Kraiev nicht abschließend bewerten. Der Politikwissenschaftler spricht von verschiedenen Narrativen bei Trump, die teils widersprüchlich seien und trotzdem koexistierten und nennt Beispiele: So hat Trump einerseits die Ukraine immer wieder als korrupt bezeichnet und zwischenzeitlich sogar Präsident Volodymyr Selenskyj vorgeworfen, für den russischen Angriff auf die Ukraine mitverantwortlich zu sein, und dass ein schlechter Deal besser als der Krieg sei. Andererseits betonte er mehrfach das Leiden der ukrainischen Bevölkerung. Als Präsident hätte er 2022 als Reaktion auf die Invasion Moskau bombardiert. Und trotz aller Kritik an Selenskyj zeigte Trump große Wertschätzung für die Solidaritätsbekundung des ukrainischen Präsidenten nach dem Attentatsversuch auf sich. Darüber hinaus war es Trump, der während seiner Präsidentschaft die Restriktionen beispielsweise für Javelin-Panzerabwehrraketen aufhob und der Ukraine so eine effektivere Verteidigung ermöglichte.

Zumindest eine Schlussfolgerung lässt sich für Kraiev as all dem ableiten:

Er will den Krieg so schnell wie möglich beenden, mit allen notwendigen Mitteln, mit allen notwendigen Verhandlungen und unter allen Umständen.

Für ihn habe sich im Zuge der Wahl weniger die Frage gestellt, welcher Kandidat besser oder schlechter sei, sondern wer mehr Risiko für die Ukraine bedeute: Trump sei zweifelsohne ein risikofreudiger Typ. „Aber das ist nicht komplett negativ gemeint“, merkt er an.

Gegenseitiger Nutzen

Denn Trumps „gefährliche, riskante und unvorhersehbare“ Politik könne sich genauso gegen Putin richten. Im ukrainischen Außenministerium beobachtet Kraiev bereits viel Antizipation bezüglich Trumps Präsidentschaft und den Glauben daran, dass Trump der Ukraine nutzen könne. Zumal auch der US-Präsident von einem Engagement für die Ukraine profitieren könnte. Der Politikwissenschaftler erkennt zwei Ziele in Trumps Politik:

  • Das Image verbessern: Trump präsentiere sich gerne als starker Mann, als entschlossener und mächtiger Politiker. Mit einem Erfolg in der Ukraine könne er Heldenstatus erlangen. „Die russischen Aggressionen in der Ukraine zu beenden, einem anderen Staat zu helfen, gegen eine große Diktatur zu gewinnen, gegen die größte Bedrohung für die amerikanische Demokratie und die amerikanische nationale Sicherheit – das ist die beste Imagebildung, die sich Trump vorstellen kann“, sagt Kraiev. Er könne sich dann sogar zum Retter des demokratischen Westens stilisieren. Zumal die russische Einmischung in die US-Wahlen 2016, im Mueller-Report ausführlich dargelegt, sich negativ auf seinen Wahlkampf ausgewirkt habe.
  • Profit: Mit seinen Bodenschätzen und günstigen Preisen könne sich Russland zwar als attraktiver Handelspartner anbieten und versuchen, das Sanktionsregime zu beenden. Doch die Ukraine aufzurüsten sei eine Jahrhundertaufgabe – die der amerikanischen Industrie viel Geld in die Kassen spülen könnte. „Trump wird so einen Deal sicher mögen“, zeigt sich Kraiev überzeugt.

Sollte diese Strategie nicht aufgehen, drohe der Ukraine jedoch, ihren wichtigsten Unterstützer zu verlieren – und ohne dessen weiteren Waffenlieferungen wohl auch den Krieg.

Priorität auf Innenpolitik

Bis dahin werde jedoch noch einige Zeit verstreichen, vermutet Kraiev. Priorität hätten für Trump zunächst innenpolitische Reformen und das Ausschalten politischer Gegner:innen. „All diese Themen werden innenpolitische oder sogar eine Verfassungskrise auslösen“, sagt er. Das dürfte Trump für mindestens drei bis vier Monate seiner Präsidentschaft beschäftigen, bis er sich ernsthaft außenpolitischen Themen wie der Ukraine, der NATO oder anderen Partnern widmen könne.

US-Kongress mit großer Bedeutung für Ukraine

Für die Ukraine hätten die Kongresswahlen indes eine noch größere Bedeutung als die des US-Präsidenten. „Jede Art von Ungleichgewicht im Kongress und ein Kongress, der Anfang Dezember nicht arbeitsfähig ist, wäre ein großes Problem für die Ukraine“, sagt Kraiev. Der Fokus der ukrainischen Außenpolitik sollte daher auf einer „parlamentarischen Diplomatie“ liegen. Zwar sei der Präsident die präsente Figur: „Aber gleichzeitig werden die meisten unserer Themen im Kongress entschieden.“

Vergangene Hilfspakete für die Ukraine seien trotz zwischenzeitlicher Dispute und Verzögerungen letztlich mit parteiübergreifender Unterstützung beschlossen worden. Ein Entwurf von Trump und dem republikanischen Sprecher des Repräsentantenhauses, Mike Johnson, habe außerdem ein ähnliches Budget und noch mehr Garantien für die Ukraine vorgesehen als Bidens Variante. „Im Grunde sehen wir, dass wir immer noch Unterstützung von einem großen Teil der republikanischen Partei erfahren; aus dem konservativen und aus dem Trump-Lager“, fasst Kraiev zusammen. Hinzu komme die weitgehend geschlossene Unterstützung der Demokraten.

Zum Zeitpunkt des Gesprächs am Donnerstagabend fehlen den Republikanern noch wenige Sitze für die Mehrheit, die sie im Senat bereits sicher haben. Die Stimmen sind noch nicht komplett ausgezählt. Angesichts der knappen Mehrheitsverhältnisse in beiden Kammern erwartet Kraiev weiterhin eine Zusammenarbeit beider Parteien: „Die Ukraine-Resolutionen haben unter diesen Umständen mehr Chancen auf Erfolg.“

Wichtige Daten im Dezember 2024

Bevor sich die Ukraine hier aktiv einbringen kann, muss sie die formalen Prozesse abwarten. Am 17. Dezember kommt der US-Wahlmännergremium (Electoral College) zusammen, um den Präsidenten zu wählen. Wichtig werde außerdem der 20. Dezember: Bis dahin ist der US-Haushalt aktuell vorübergehend bewilligt. Der Ausgang der weiteren Debatte werde auch bestimmen, wie hoch das Budget für die Ukraine, Israel und Taiwan ausfallen werde, so Kraiev. Hier müsse sich die Ukraine vorbereiten und die notwendigen Informationen über die Bedarfe bereitstellen, um den russischen Vormarsch zu stoppen. Unterdessen versucht die Biden-Administration, der Ukraine für die Übergangszeit die verbleibenden rund sechs Milliarden US-Dollar des aktuellen Hilfspakets bereitzustellen.

Deutschlands Chaos birgt ebenfalls Chancen

Mit Deutschland versinkt nun ein zweiter wichtiger Partner der Ukraine in innenpolitischen Querelen. Die Entlassung des Finanzministers, Christian Lindner, und der darauffolgende Austritt der FDP aus der Ampel-Koalition bedeutet eine Minderheitsregierung ohne stabile Mehrheiten im Parlament. Neuwahlen wiederum könnten die Kräfte stärken, die sich gegen die Ukraine-Hilfen stellen.

Deutschland zählt zwar nicht zu Kraievs Forschungsgebieten, doch lasse es sich sich unter einem grundsätzlichen Aspekt betrachten. „Jede politische Instabilität unter unseren Verbündeten, insbesondere unter unseren bedeutendsten Verbündeten, ist ein negativer Punkt für die Ukraine“, fasst Kraiev zusammen. Denn mehr Chaos bedeute mehr Möglichkeiten für Russland.

Ähnlich wie in den USA bringe ein solcher Umbruch jedoch auch Chancen mit sich. Bundestag, Verteidigungsminister Boris Pistorius und Rüstungsbetriebe wie Rheinmetall hätten immer wieder die Bereitschaft signalisiert, die Ukraine mehr zu unterstützen. „Der einzige Schwachpunkt in dieser Kette war Scholz“, so Kraievs Einschätzung. Von einem Wechsel an der Spitze könnte die Ukraine also auch profitieren. Das dürfe aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass politische Krisen und Instabilitäten ohne weiteren Kontext grundsätzlich schlecht für die Ukraine seien.

Beitrag veröffentlicht am November 9, 2024

Zuletzt bearbeitet am November 9, 2024

Schreibe einen Kommentar