An der Front können sogar Geschenke von Kindern vergiftet sein

Beschädigtes Wohnhaus in Lyman mit zerbrochenen Fenstern und Trümmern, die auf Zerstörung hinweisen.

Besuch in der ukrainischen Frontstadt Lyman, in der die Menschen in schrankgroßen Kellern leben, Kinder zum Vergiften von Soldaten eingesetzt werden und die Menschen Feuerholz verwenden, um das Essen auf provisorischen Öfen auf der Straße zu kochen.

Lyman, eine kleine Stadt in der Region Donezk, liegt nur 15 Kilometer von der Frontlinie entfernt. Sie wirkt wie ein apokalyptischer Prototyp dafür, wie die gesamte Ukraine hätte aussehen können, wenn die russische Armee bei ihrem Blitzangriff erfolgreich gewesen wäre und die Macht übernommen hätte.

Eine Gruppe besorgter Erwachsener steht draußen, in einem Wohngebiet in Lyman.

Die Infrastruktur der Stadt war nach einer viermonatigen russischen Besatzung im Jahr 2022 zerstört. Im Oktober 2022 hat die ukrainische Armee Lyman zurückerobert und befreit. Seitdem ist sie regelmäßig eines der Ziele von Putins Armee. Die Bewohner:innen leben in ihren Kellern, um sich vor russischen Raketen, Granaten und Drohnen zu schützen, und kochen ihr Essen draußen auf provisorischen Öfen. Neben jedem Gebäude stapeln sich Tonnen voll mit Brennholz.

Unterwegs mit humanitären Helfer:innen in Lyman

Vor der russischen Besetzung lebten hier mehr als 20.000 Menschen; jetzt versuchen nur noch wenige Tausend zu überleben, die meiste Zeit verbringen sie versteckt in ihren Kellern. Ein Team humanitärer Helfer:innen besucht eine dreiköpfige Familie, die in einem Kellerraum in der Größe eines Schrankes lebt. Galina Viktorowna, 62, ihre Tochter Irina, 30, und ihre Enkelin Evelina, 10, leben in einem drei Quadratmeter großen Zimmer.

Beschädigtes Gebäude in Lyman mit eingestürzter Fassade und Trümmern aufgrund von Zerstörung oder Aufgabe.

Der ausgeprägte Geruch von Abwasser und Schimmel ist nahezu unerträglich. „Ja, es stinkt furchtbar, aber hier ist es wärmer als in einer Wohnung und wir sind vor den Raketen sicher“, sagt Galina Viktorowna. Das stimmt nicht ganz. Die Russen wissen, dass Menschen in Kellern leben und nehmen sie bewusst ins Visier. Die Russen trafen den Keller des Nachbargebäudes. Der Krater legt nahe, dass es sich um eine Fliegerbombe gehandelt haben dürfte. Aber Menschen in verzweifelten Situationen müssen an irgendetwas glauben und daran festhalten.

Wir können nirgendwo hingehen. Wir hatten keine Probleme, bis Russland sie verursachte.

Galina Viktorowna

Zerrüttete Familien

Menschen wie diese Familie sind größtenteils auf humanitäre Hilfe angewiesen. Freiwillige besuchen die Frontstädte, um den übrig gebliebenen Bewohner:innen die notwendigsten Güter zu bringen. Bei der Verteilung treffen sie unter anderem Artyom. Der 52-Jährige trägt immer noch seinen schicken Mantel. Doch seine Augen sind wässrig und sein Gesicht beginnt anzuschwellen, ein Anzeichen übermäßigen Alkoholkonsums.

Artjoms Frau floh zu Beginn des russischen Großangriffs auf die Ukraine mit ihren Kindern von Lyman nach Deutschland. Jetzt reden sie nicht mehr. Sie habe einen neuen Namen angenommen und eine neue Familie gegründet, erzählt Artjom. Sogar ihren Vornamen habe sie von Tanya auf Tina geändert. Jetzt führe sie ein gutes Leben. Ihr Mann, der nach ukrainischem Recht immer noch verheiratet ist, ist völlig am Boden zerstört:

Früher hatte ich ein kleines Unternehmen. Ich besaß ein paar Busse. Als die Russen kamen, nahmen sie sie mit. Meine Frau, die ich sehr liebte, fand nur wenige Monate nach ihrer Ankunft einen Mann in Deutschland. Sie sagte mir, dass sie nichts mehr mit mir zu tun haben will, weil ‘ich jetzt arm bin’. Was soll ich machen? Hier gibt es keine Arbeit. Ich kann kein Geschäft aufbauen; ich habe alles verloren. Meine Frau und mein Leben.

Während die Freiwilligen Essen verteilen, kommt ein siebenjähriges Mädchen lächelnd auf uns zu und bietet Süßigkeiten an. Eine herzerwärmende Geste.

Vergiftete Geschenke

„Aber iss es nicht“, sagt ein Freiwilliger in der Gruppe. „Die Stadt ist voller russischer Agent:innen.Es gab Fälle, in denen Kinder Süßigkeiten zu den Kontrollpunkten und zu zufällig ausgewählten Soldat:innen auf der Straße brachten. Die Süßigkeiten waren vergiftet.Die Kinder wissen nicht, was sie tun. Du solltest von den Menschen nichts annehmen; du kannst nicht einmal einem kleinen Mädchen vertrauen.

Ein Wohngebiet mit einem alten Gebäude und gestapelten Baumstämmen im Vordergrund.

Als ich anfange, darüber nachzudenken, merke ich, dass das Mädchen aus dem Nichts auftauchte. Es wurde von niemandem betreut und passte nicht in die allgemeine Atmosphäre der Depression, Zerstörung und Apokalypse. Unter diesen Umständen kann man nicht vorsichtig genug sein, selbst wenn man Gutes tut, sollte man nicht dasselbe im Gegenzug erwarten …

Währenddessen versuchen die Menschen in Lyman unter dem Beschuss russischer Artillerie, Raketen und Drohnen am Leben zu bleiben.

Beitrag veröffentlicht am März 31, 2024

Zuletzt bearbeitet am März 31, 2024

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