Nach der Luftbrücke aus Kabul: Funkstille und unklare Sicherheitslage

Nach der Luftbrücke aus Kabul: Funkstille und unklare Sicherheitslage

Rund 122.000 Menschen sind im Zuge der Luftbrücke aus Kabul vor den Taliban entkommen. Doch noch mehr bleiben zurück. Die Hamburgerin Mina Said und ihre Familie warten seit dem Einmarsch der Gruppe in Kabul vor knapp einem Monat auf ein Lebenszeichen von mehreren Angehörigen. Die große Frage: Wie kommen sie noch raus? „Wahrscheinlich gar nicht mehr“, befürchtet Said.

Angehörige beim afghanischen Militär

Mehrere Familienmitglieder haben für das amerikanische und das afghanische Militär gearbeitet. Auf ihrem Smartphone hat Said mehrere Fotos, die sie lachend in Uniform zeigen. Einer ihrer Onkel arbeitete als Pilot für die Luftwaffe, flog jahrelang Angriffe gegen Ziele der Taliban. Offenbar als einziger hat er es im Zuge der Evakuierung in Sicherheit geschafft und auf einer der berüchtigten Listen gestanden.

Doch seitdem: Funkstille. „Soweit ich weiß, ist er ist in Amerika“, erzählt Said. Doch wo genau, könne sie nicht sagen. „Wir können nicht mit ihm sprechen“, führt die 21-Jährige weiter aus. Zu groß sei die Sorge, dass irgendwelche Informationen in die falschen Hände geraten und sein Leben doch gefährden könnten. „Er ist ja nicht alleine geflohen, sondern mit ihm auch seine ganzen Kollegen, die auch Piloten waren oder Militärs“, erklärt sie.

Die Bedeutung der Evakuierungsaktion will sie dabei nicht klein reden – ebenso wie das 20 Jahre andauernde Engagement der Allianz. Nur umso bitterer sei dieser überhastete Abzug mit all seinen Konsequenzen. „Es ist immer noch gut, dass so viele rausgekommen sind“, sagt Said. Dennoch zeigt sich die 21-Jährige enttäuscht, wie unorganisiert und chaotisch sie ablief.

5300

Menschen hat die Bundeswehr nach Angaben des Auswärtigen Amts aus Afghanistan evakuiert.

4400

Afghan:innen waren darunter.

50%

davon wiederum waren Frauen.

Während die Amerikaner:innen mehr als 800 Menschen in den ersten Flieger quetschten, hob der erste deutsche Flieger mit gerade einmal sieben Personen ab. „Das war das lächerlichste Bild im Internet“, kritisiert Said noch immer entrüstet: „Da sind wir auch einfach nur zur Lachnummer geworden.“ Grundsätzlich hätten mehr Leute rausgeholt werden können.

Der erste Evakuierungsflug

Der erste Evakuierungsflug der Bundeswehr erzeugte viel Kritik, weil nur sieben Menschen außer Landes gebracht wurden. Die Bundeswehr verweist auf „Sicherheitsvorgaben unserer Partner“ und eine kurze Standzeit am Flughafen. Deshalb und wegen der von den Taliban verhängten Ausgangssperre hätten nicht mehr Menschen in die A400M-Maschine gelangen können. Bereits zuvor hatte ein deutscher Flieger seine Mission abbrechen müssen, da eine Landung am Flughafen nicht möglich war und der Treibstoff ausging. Unter anderem der Journalist Enno Lenze widerlegt diese Angaben: Die Deutschen hätten keine Evakuierungsliste vorgelegt und sich dann auch noch geweigert, andere Fliehende in den Flieger einsteigen zu lassen.

Said erinnert auch daran, dass diese groß angelegte Evakuierung nur notwendig war, weil eben vor und mit dem Abzug kaum Ausreisen der Mitarbeiter:innen und Verbündeten vor Ort organisiert worden seien. „Organisatorisch eine komplette Null“, so ihr Fazit – und dann blockierte die Bundesregierung auch noch eine zivile Rettungsaktion.

Man hätte von Anfang an eine richtige Luftbrücke schaffen müssen

Mina Said

Flucht vor den Taliban – vor 25 Jahren

Die Flucht vor den Taliban kennt Saids Familie noch aus der eigenen Geschichte. 1996, kurz nachdem ihr älterer Bruder geboren war und die Islamisten die Macht übernommen hatten, fiel der Entschluss zur Flucht. Schon damals sei sie nur unter schwierigen Umständen gelungen. „Meine Mutter hat gesagt: ‚Ich möchte ein besseres Leben für mein Kind.“ Um die Reise nach Deutschland zu bezahlen, habe die Großfamilie damals zusammengelegt. Spätere Versuche, für weitere Familienmitglieder ein Visum zu beantragen, seien immer gescheitert. Auf die letzten Anträge habe sie nicht einmal mehr eine Antwort erhalten.

Die deutsche Öffentlichkeit wendet sich nun allmählich von der Situation in Afghanistan ab. Wahlkampf, Corona oder Bundesliga dominieren wieder die Schlagzeilen. Doch für Familie Said bleibt die Lage allgegenwärtig. Vor allem ihre Mutter hätten die vergangenen Wochen stark zugesetzt. Umso wichtiger sei gewesen, sich bei den Demonstrationen zu beteiligen. Aktiv zu sein. Die Stimme zu erheben. Denn für den Moment bleibt nur die Hoffnung. „Ich glaube, es wird noch dauern, bis wir wieder von denen hören“, sieht Said nur wenig Anlass für Optimismus.

Die Hoffnung schwindet

Auch für das Herkunftsland ihrer Eltern bleibt die Hoffnung gering. „Ich glaube eher, es wird schlimmer“, befürchtet Said. Ermordete Schauspieler:innen, Journalist:innen, Künstler:innen und Zivilist:innen – das wahre Gesicht der Taliban zeige sich bereits jetzt. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis Frauen nur noch gebären und kochen sollten im Afghanistan der Taliban: „Ich sehe jetzt in diesem Jahr wirklich keine Hoffnung.“ Wer sollte auch helfen? Eine Intervention Deutschlands oder Amerikas – unwahrscheinlich.

Wenn Frauen sich nun wieder komplett verschleiern müssten, getrennt oder gar nicht mehr zur Schule dürfen, öffentlich ausgepeitscht werden. Was soll an diesen Taliban moderner sein, fragt Said? Vor wenigen Monaten haben sie noch eine Mädchenschule angegriffen. „Man sieht schon jetzt die wahren Farben“, so ihr Eindruck.

Am kommenden Freitag wird Said beim Benefizkonzert für das Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte in Überlingen an der Podiumsdiskussion teilnehmen.

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