Leonid Maslov: Anwalt im zweiten Einsatz

Leonid Maslov: Anwalt im zweiten Einsatz

Im Donbass hat Leonid Maslov bereits für die ukrainische Armee gekämpft. Jetzt verteidigt der 55-jährige Anwalt seine Heimatstadt Charkiw.

Das alte Team ist wieder vereint. Mit 55 Jahren zieht Leonid Maslov (links im Bild) mit seinen Kameraden einer Aufklärungseinheit noch einmal in den Krieg. Am Bahnhof in Charkiw fährt er mit zwei Kollegen im armee-grünen Geländewagen vor und heißt seinen Gast willkommen; alle tragen ihre Kalaschnikows mit sich. „Wir sind seit vier Uhr im Einsatz“, erzählt Maslov unmittelbar – sein Team habe in der gerade laufenden Gegenoffensive die Vorarbeit geleistet. Läuft alles nach Plan, sollten bis zum Abend zwei weitere Orte wieder unter ukrainischer Kontrolle sein.

Neue Kriegs-Souvenirs

Sein Büro in einem modernen Gebäude hat der Anwalt mit Beginn der groß angelegten russischen Offensive in der Ukraine erneut gegen die Drohne eingetauscht. Bereits im Zuge des Krieges im Donbass hatte er sich mit seiner Einheit engagiert, Souvenirs dazu schmückten sein Büro. Jetzt sammelt er neue, zeigt statt Minen-Attrappen nun stolz die Mütze eines getöteten Colonels oder eine blaue Baseball-Kappe mit russischer Fahne. Auf dem Smartphone zeigt Maslov Videos, wie er Kriegsgefangene interviewt. Jung, sichtlich verängstigt.

Kharkiv/Charkiw: Anwalt und Veteran Leonid Maslov in seinem Büro im
Anwalt und Veteran Leonid Maslov im Januar 2022 in seinem Büro im “Kapitalist”-Gebäude. Foto: Lena Reiner

Maslov beschreibt sie als dumm, peinlich. Sie kämen im Glauben, etwas Gutes zu tun. „Sie sagen, sie kamen, um ihr Mutterland vor der NATO zu beschützen. In einer anderen Version, dass, wenn sie nicht in die Ukraine einmarschiert wären, im nächsten Schritt die NATO Russland angreifen würde. Oder, dass hier überall Nazis wären und sie die Ukraine davon befreien müssten“, schildert er aus den Befragungen. Doch um „Gutes“ zu tun fehle ihnen die Motivation und das sei schlicht nicht ihre Aufgabe; das sei der Hauptgrund für das bisherige Scheitern trotz theoretischer Überlegenheit. „Ich habe sie nur nicht getötet, weil ich nicht wie sie sein sollte.“ Er lacht hämisch. Deshalb habe er sie davor gerettet, gefoltert zu werden; ihnen Wasser gegeben. Als Aufklärer habe er seit Februar noch keine Kugel abgefeuert, erzählt er später.

Vorsichtiger Pessimist

Bei einem Interview Ende Januar zählte Maslov noch zu den pessimistischsten Gesprächspartner:innen, was die Bedrohung durch Russland anging. Er zählte zu der Gruppe, die bereits Fluchtpläne für die Familie aufgestellt hatten. Auf 10 Prozent schätzte er die Wahrscheinlichkeit einer Großoffensive – und nannte die Zeit nach dem 20. Februar als kritische Zeitmarke. Als Machthaber Putin einen Tag später die selbsterklärten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als Staaten anerkannte – in den Oblastgrenzen von 2014 – sei das Risiko seiner Meinung nach auf 50 Prozent gestiegen. Drei Tage später flogen die ersten Raketen.

Seinen Nationalismus versucht Maslov gar nicht erst zu verbergen. Wenn er über Russland herzieht, verweist er stets auf die eigenen Wurzeln mit deutschen und russischen Bezügen. Er selbst fühle sich jedoch als Ukrainer. Aus diesem Grund führt er seine Abneigung nicht auf die Gene zurück, sondern auf die Sozialisierung. „Vielleicht sind sie normal, wenn sie vor langer Zeit ausgewandert sind“, merkt er an. Doch die kaum älter als 20-Jährigen, die er befrage, hätten außer Putin keine politische Führungsfigur im Russland erlebt. „Das hat ungefähr 1994 angefangen mit dem Tschetschenien-Krieg und dem ‚Make Russia great Again‘-Gehabe“, präzisiert er. Während Deutschland durch eine neue Generation „mit normaler Mentalität“ recht schnell die Nazi-Vergangenheit überwunden habe, dürfte das in Russland länger dauern, vermutet er. „Ich denke, mindestens fünf Generationen, um zivilisiert zu werden“, schiebt er hinterher.

In Rage

Ähnlich wortaggressiv holt Maslov aus, wenn er über die deutsche Politik spricht. Menschen, die die Ukraine zum Aufgeben auffordern? Die Beleidigung dazu wird an dieser Stelle ausgespart. Er wirft die Arme in die Höhe, die Augen weiten sich. „ABER DANN WIRD DEUTSCHLAND ANGEGRIFFEN!“ Vermutlich zuerst Polen und das Baltikum; doch den Krieg in der Ukraine als regionalen Konflikt zu verstehen, erschließt sich ihm nicht.

Hast du gehört, was Putin gesagt hat? Dass der Abriss der Berliner Mauer ein großer Fehler war!

Für ebenso fahrlässig hält er Forderungen, keine schweren Waffen an seine Armee zu liefern, um eine Eskalation zu vermeiden. „Das ist das schlimmste Narrativ. Denn Putin entscheidet einen Nuklearangriff nicht wegen schwerer Waffen oder dem, was Deutschland macht. Er ist verrückt. Er ist kein Mensch“, führt Maslov aus und sagt weiter: „Das ist ein Land aggressiver Verlierer und aggressive Verlierer werden Berlin mit einer Nuklearrakete treffen – unabhängig davon.“

Doch auch anderen Ländern stellt der Anwalt ein schlechtes Zeugnis aus. Ex-Kanzlerin Angela Merkel beschreibt er als „Putins Agentin“, von Vorgänger Schröder ganz zu schweigen; und auch die aktuelle Regierung hänge am Tropf von Unternehmen, die von russischem Gas abhängig seien oder auf dem dortigen Markt Profite machen wollten. „Ich wünsche euch, dass ihr Putins Agenten alle aus der Regierung werft“, merkt Maslov an.

Georgien als Beginn der Eskalation

Begonnen habe die Eskalationsspirale bereits mit der russischen Invasion in Georgien im Jahr 2008 – und den schwachen Reaktionen des Westens. Deshalb bewertet Maslov das, was am 24. Februar dieses Jahres begonnen hat, nicht als neuen Krieg – sondern als nächste Stufe des Donbass-Konflikts, in dem er ebenfalls mit seiner Einheit gekämpft hat.

Mit einer Prognose aus dem Januar lag Maslov derweil augenscheinlich falsch: Damals sagte er voraus, die Stadt sei pro-russisch geprägt, würde sofort die Weiße Flagge hissen. Doch noch fast 80 Tagen ist die Stadt nicht gefallen, russische Panzer wurden zurückgedrängt, aktuell bläst die Ukraine zur Gegenoffensive. Hat sich Maslov also geirrt? „Charkiw hat aufgegeben“, kontert er. Polizei und Geheimdienst hätten die Stadt schnell verlassen. „Manche sind die ersten fünf Tage geblieben. Unsere pro-russischen Verräter dachten, es würde sehr schnell gehen“, erläutert Maslov weiter.

Einige Truppen hätten auch das Stadtgebiet erreicht. „Sie wurden alle getötet. Außer denen, die Gefangen genommen wurden“, merkt er an. Die „Verräter“ in den eigenen Reihen seien nun in den Westen des Landes geflohen. Mehr als zwei Wochen, nachdem Maslov diese Aussagen tätigt, entlässt Präsident Selenskyj tatsächlich den lokalen Geheimdienstchef und wirft diesem vor, nicht für die Sicherheit der Stadt gesorgt zu haben.

Verlorene Existenz

Seine eigene Familie hat Maslov derweil wie angekündigt in Sicherheit in die USA gebracht. Auch wenn er sich siegesgewiss gibt, dürfte es keine baldige Wiedervereinigung geben. „Ich denke, ich will nicht, dass meine Töchter zurückkommen“, sagt er. Sie sollten eine Ausbildung irgendwo im Ausland erhalten. Leisten könne er sich das jetzt eigentlich nicht mehr, doch erhielten seine Töchter kostenlose Schulbildung in den USA. „Mein ganzes Leben ist zum Ende gekommen. Meine Wohnung ist nichts mehr wert“, sagt Maslov. Das Wichtigste sei für ihn deshalb gewesen, seine Familie in Sicherheit zu wissen. Gedanken um sie wolle er sich erst nach dem Sieg machen. Auch den Vater, der das Land wegen des Grabes seiner verstorbenen Frau nicht verlassen wollte, habe er überzeugen können, zumindest an einen sichereren Ort zu gehen. „12 Stunden später hat eine Rakete sein Haus getroffen“, merkt Maslov an.

Grundsätzlich hoffe er, dass alle irgendwann zurück nach Charkiw kämen. Wie die Ukraine dann aussehen soll? „Die Ukraine muss große Möglichkeiten haben mit einer Art Marshall-Plan und großen Investitionen und großem Wiederaufbau“, sagt der 55-Jährige. Zerstörte Stadtteile wie Saltivka müssten dann vermutlich komplett neu errichtet werden.

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