Unsere Gastautorin, Jules, hat wegen der russischen Invasion in der Ukraine ihre russische Schwester in Izmail nahe Odesa besucht. Hier berichtet sie von ihrer bewegenden Reise.
Teil II verpasst? Hier lesen.
Blind hoffen, auf gut Glück – die Grundeinstellung dieser Reise: Aus Kassel habe ich mich auf den Weg in die Ukraine gemacht, um meine ältere Halbschwester Zhanna nach langer Trennung wiederzusehen – bis Tulcea habe ich es schon geschafft. In Friedenszeiten könnte man von hier aus den Fluss hoch, direkt bis Izmail; im Sommer boomt hier ein lebhafter Donau-Tourismus.
Jetzt sind Wasser und Himmel grau; Minusgrade, schneidender Wind, sporadischer Schneefall. Niemand, den ich frage – Reisende, Bahnhofs- und Hafenmitarbeiter – niemand will irgendetwas von diesem sagenhaften Boot wissen, auf das Zhanna schwört. Ich warte schon seit 10 Uhr morgens darauf, jetzt ist es Nachmittag. Immer wieder vertröstet mich meine Schwester: “Das dauert alles wohl doch etwas länger, aber finde schon mal heraus, wo genau die Anlegestelle ist!”
Leichter gesagt als getan: Ganz Tulcea ist ein einziger Hafen, überall sind Anlegestellen! Wie ein kopfloses Huhn renne ich stundenlang am Ufer entlang, werde von einem Ende zum anderen geschickt, man hält mich unverhohlen für verwirrt: “No, not here! Refugees arrive in Isaccea!” (übersetzt: “Nein, nicht hier! Flüchtlinge kommen in Isaccea an!”)
Ich weiß: In Isaccea ist der offizielle Grenzübergang für Flüchtende. Von Tulcea aus einen Bus nach Isaccea nehmen, dann mit der Fähre auf die andere Seite, nach Orlivka – das war eigentlich mein ursprünglicher Plan gewesen. Aber nun hält mich die Mär von dieser neuen Fähre in Tulcea fest. Beim Touristenzentrum erreiche ich niemanden, das Büro für Flüchtlingsfragen kann ich nicht mal online finden. Ein junger Grenzbeamter will gehört haben, dass so ein Boot vielleicht – möglicherweise – morgen ankomme.
Ich erreiche einen Flüchtlingshelfer: Er habe auch schon davon gehört – wenn es nicht heute komme, dann morgen, ich solle auf jeden Fall in Tulcea bleiben. Ich weiß nicht, warum ich überhaupt auf diese beiden fremden Frauen warte, warum ich mich nicht einfach nach Isaccea aufmache; aber meine sture Schwester besteht darauf. Sie sind Bekannte von ihr, vor ein paar Tagen aus Odessa geflohen und mit ihren Hunden bei Zhanna untergekommen; denn noch ist es ruhig in Izmail.
“Sie sind an Bord!”, jubelt Zhanna endlich um sechzehn Uhr, und in meiner Erleichterung verwechsle ich “an Bord” mit “abgelegt.” Nach drei Stunden kommt: “Sie stecken noch immer im Hafen fest.” Meine Stimmung schaufelt sich neue Tiefen im Keller. Mittlerweile fühle ich mich wie eine irre Kryptozoologin, die glaubt, dem Yeti auf der Spur zu sein. Existiert dieses Boot überhaupt? Existieren die Mädels? Existiere ich…?
Während dieser verlorenen Stunden treffe ich immer wieder Flüchtlinge, die aus Isaccea ankommen. Von hier aus wollen sie weiter nach Bukarest, und danach… – die meisten träumen von Deutschland. Ich verteile meine Kontaktdaten.
“Ukraine?” fragt mich mitfühlend die junge Frau vom Kiosk, wo ich mir Wasser und Chips hole. “Nu1Nein”, sage ich, während ich “Ja” denke.
Dann heißt es, eine Freundin der beiden Passagierinnen sei ebenfalls am Hafen in Tulcea angekommen, ich solle sie suchen: Lera. Meine Nerven sind abgenagt – wie soll ich hier eine fremde Frau finden? Aber dann geht es doch verblüffend schnell. Lera ist jung, fix im Reden und Denken, geradeheraus, no bullshit – sympathisch. Sie teilt meine surrealen Erlebnisse auf der Suche nach dem hypothetischen Anlegeplatz des legendenumwobenen Boots. Wir beschließen, weiter zu warten, auch, nachdem wir einer Reisegruppe von heimkehrenden Ukrainerinnen auf den Rückweg über Isaccea geholfen haben. Direkt danach tauchen zwei weitere ukrainische Familien auf, die, aus dem Urlaub kommend, nach Hause wollen. Wir erzählen von der Vielleicht-Fähre, aber vernünftigerweise entschließen sie sich, lieber auf den Bus nach Isaccea zu warten.
„Wir sind umgekehrte Volontärinnen“, lacht Lera, „wir helfen Menschen nicht raus, sondern rein.“
Es ist dunkel geworden, die Wartehalle wird abgesperrt. Gut, dass Lera ein Auto hat: Sie heizt es auf, wir teilen unsere Snacks, tauschen “Sie” gegen “Du”. Vor erst einer Woche ist Lera selbst über Isaccea aus Odessa geflohen und hat eine Unterkunft in der Nähe von Tulcea bekommen. Sie hatte eigentlich zusammen mit ihrer Partnerin Katya fliehen wollen – der Jüngeren des Duos auf der Fähre. Aber ihr gemeinsamer Hund hat unerwartet und dringend eine Notoperation gebraucht – eine musste zurückbleiben. Katya und der Welpe warten nun in Izmail auf das Ende des Krieges. Lera drängt es schon wieder zurück in die Heimat, zurück zur Freundin, zurück zu ihrer Arbeit: Sie hat ein Keramikstudio in Odessa – sie weiß nicht mal, ob es noch steht.
Die Grenzenlosigkeit der rumänischen Hilfsbereitschaft berührt sie – man hat ihr sogar Arbeit in einer Keramikwerkstatt besorgt. Aber zugleich schämt sie sich, so viel Hilfe zu beanspruchen, schämt sich, nicht richtig Englisch zu sprechen, nichts zurückgeben zu können; sie kann sich mit diesem neuen Status als Flüchtling nicht abfinden, mit diesem “ohne alles im Nichts schweben“. Es scheint ihr erträglicher, sich daheim vor den Bomben zu fürchten, anstatt im fremden Ausland in „diesem Zustand“ festzuhängen.
In Tulcea ist sie nun, um Katya wenigstens kurz zu sehen: “Katya sagte, sie sei nach Tulcea unterwegs, um ein junges Mädchen zu retten.” – Ich? Junges Mädchen? Retten? Ich falle aus allen Wolken, als mir klar wird, dass meine Schwester, durchdrehend vor Sorge, ihre beiden Gäste losgeschickt hat, weil sie annahm, dass ich es allein nicht sicher auf die andere Seite schaffe. Als wäre ich noch immer die tollpatschige, vor Unsicherheit schlotternde Teenagerin von vor 20 Jahren.
Gegen halb zehn kommt endlich Katyas Nachricht:
“Haltet euch bereit, wir können schon die Lichter am Ufer sehen, wir sind nah!”
Doch Lera und ich sehen überhaupt nichts. Als sie den Standort des Bootes per AppleMaps geschickt bekommt, starrt Lera fassungslos aufs Display: “Julya”, flüstert sie, “da stimmt etwas ganz und gar nicht…” – Die Fähre steuert nicht Tulcea an – sie entfernt sich in entgegengesetzter Richtung! Ein eisiger Schock durchzuckt uns: Entführung? Trafficking? Woher soll man wissen, zu wem genau man da ins Boot steigt – zu zwei fremden Männern, die versprechen, einen sicher auf die andere Seite zu bringen.
Lera tippt frenetisch:
„Ihr fahrt nicht nach Tulcea! Fragt, wo ihr eigentlich hinfahrt!”
Der Kurs wurde von den beiden Kapitänen tatsächlich einfach geändert – ohne den Leuten an Bord Bescheid zu sagen. Den Flüchtenden kann es schließlich egal sein, wo in Rumänien sie landen, scheint man sich gedacht zu haben. “Es heißt, wir fahren in <irgendein Dorf>, welches, haben sie vergessen.”
Lera beißt sich auf die Lippen. “Das kann doch nur Isaccea sein…”
Es ist tatsächlich Isaccea, das Dorf mit dem Flüchtlingslager – 40 Autominuten flussaufwärts. Der Ort, wohin wir heute schon zwei Dutzend Leute verabschiedet haben. Der Ort, den ich schon längst passiert hätte, hätte ich nicht auf diese verdammte Fähre gewartet.
Ein hilfloses Lachen steigt in mir auf.
Beitrag veröffentlicht am April 27, 2022
Zuletzt bearbeitet am April 27, 2022
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.