Flüchtlinge in Dünkirchen und Calais: Der britische Traum lebt trotz Ruanda-Plan weiter

Flüchtlinge in Dünkirchen und Calais: Der britische Traum lebt trotz Ruanda-Plan weiter

Tief in der kleinen Grünfläche, zwischen Büschen, Bäumen und Gras, taucht ein Kreis aus Zelten auf. Diesen Ort nennen der 22-jährige Arian und seine beiden Brüder, einer davon 11 Jahre alt, ihre Notunterkunft in Dünkirchen – an der Landstraße von Grande-Synthe nach Loon Plage, neben einer Eisenbahnlinie. In Calais, einer anderen Hafenstadt in Nordfrankreich, und hier versuchen mehr als 1000 Menschen, Großbritannien zu gelangen.

Mehrere Hundert Menschen warten in einem selbst errichteten Camp auf die Überfahrt nach Großbritannien. Arian ist unter anderem mit seinem 11-jährigen Bruder in Dünkirchen und will zu seinen Eltern.

Allein in dieser Ecke leben etwa 40 Menschen, erklärt Arian bei einem Besuch Mitte Juni. „Das sind neue Leute hier, weil eine Gruppe nach Großbritannien gegangen ist“, fügt er hinzu. So laufe es hier: Eine Gruppe gehe, eine andere komme. Sie stammen aus dem kurdischen Irak, wie Arian und seine Geschwister, aus Afghanistan, Georgien, Albanien. „Alle Länder kommen hierher“, sagt er und lacht. Ernster ist allerdings der Fakt, dass sie alle darauf warten, auf ein Schlauchboot zu steigen und die Überfahrt zu wagen. Arian hat es bereits getan. „Mein Boot ist kaputt gegangen, das Öl war aufgebraucht“, sagt er. Seine Gruppe sei von einem französischen Schiff gerettet und nach Calais zurückgebracht worden.

Nur ein kleiner Erfolg

Doch selbst wenn es ihm und seinen Brüdern die Überfahrt gelingt, bleibt die Zukunft ungewiss. Die britische Regierung will Neuankömmlinge nach Ruanda abschieben, um die Asylanträge zu bearbeiten. Im Juni stoppte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) den ersten Flug in letzter Minute und äußerte Bedenken wegen möglicher Menschenrechtsverletzungen im Zuge dieses Programms. Zunächst arbeitete das Johnson-Kabinett an einer Lösung, um dieses Urteil – und das Völkerrecht – zu ignorieren: die Bill of Rights. Ein zweiter Flug war bereits geplant. Mit dem Rücktritt zahlreicher Minister und dem bevorstehenden Fall des Premiers legte die Regierung das Vorhaben im Juli jedoch auf Eis, wie die Hilfsorganisation “Detention Action” berichtet. Vorerst.

Clare Moseley, Gründerin der Hilfsorganisation Care4Calais, ist beim Gespräch Mitte Juni immer noch schockiert über die Vorgänge in Großbritannien. Sie bezieht sich nicht nur auf die Entscheidungsträger:innen, die diese Praxis umsetzen wollen. Mehr noch entsetzen sie die britischen Gerichte. „Es ist die Tatsache, dass die Richter:innen in Großbritannien entschieden haben, das Gesetz zu ignorieren“, sagt sie frustriert. Die Hilfsorganisationen und ihre Mandant:innen hätten nicht verlieren dürfen, da die Beweise „wirklich gut und das Gesetz auf unserer Seite“ gewesen seien. Also hätten die Richter:innen entschieden, selbst Politik zu machen, schlussfolgert Moseley. Ein Signal, das sie für gruselig und beängstigend halte.

Noch-Premier Johnson und die britische Regierung hatten mit Ruanda ein 120-Millionen-Pfund-Paket (rund 139 Millionen Euro) ausgehandelt, um die Asylanträge der illegal Eingereisten zu bearbeiten. Das Ruanda-Thema ist jedoch nur ein Punkt eines viel größeren Schemas, „denn der Rest des Nationalitäts- und Grenzgesetzes (Nationality and Borders Act) ist eigentlich noch beängstigender als Ruanda und der Rest wird am Punkt der Diskriminierung von Flüchtlingen aufgrund der Art der Ankunft hängen“, erklärt Moseley. Denn die entscheidende Tatsache ist, dass Großbritannien Menschen Asyl verweigern will, wenn ihre Einreise als illegal angesehen wird – so wie über den Ärmelkanal. Care4Calais kämpft daher um deutlich mehr als nur gegen die Abschiebungen nach Ruanda.

Propaganda und falsche Fakten

Mit wiederholter Propaganda und sogar falschen Tatsachen im Parlament habe die Regierung die Menschen Glauben gemacht, dass dies legitim sei. „Sie sendet immer wieder Botschaften, die faktisch falsch sind, um die Meinung der Menschen zu beeinflussen“, sagt Moseley. Dazu zähle, dass Flüchtende, die sichere Länder durchquerten, keine echten Flüchtlinge seien. Deshalb verdienten sie kein Asyl und wer über Calais komme, sei ohnehin kein echter Flüchtling. Fakt ist:

Im ersten Quartal dieses Jahres erhielten

3916

Menschen einen Schutzstatus.

1229

Menschen eine Ablehnung ihres Asylgesuchs.

Nachdem die Regierung den Ruanda-Plan angekündigt hatte, hätten viele Menschen Calais und Dünkirchen verlassen, erinnert sich Arian. Aber sie kämen nun zurück, oft mit der falschen Annahme, dass das EGMR-Urteil das ganze Vorhaben gestoppt hat. Und nachdem sie Krieg und Gewalt gesehen, die Wüste durch- und das Meer überquert haben, in Libyen gefoltert oder auf dem Balkan geschlagen worden sind, ist der Traum, es nach Großbritannien zu schaffen, immer noch spürbar. „Zunächst wollen wir wegen der Sprache nach Großbritannien. Zweitens ist die Situation der Flüchtenden besser als in Frankreich oder Italien. Wir wollen ein normales Leben und wir sehen es in Großbritannien“, erklärt Abdalwhab, der den Sudan vor vier Jahren verlassen hat und nun in Calais auf die Überfahrt wartet. Andere scherzen sogar, dass Ruanda ein schönes Land wäre und sie die Möglichkeit hätten, ihre Familien wieder zu besuchen.

In Calais hoffen Mitte Juni rund 1000 Menschen auf einen Weg Richtung Großbritannien. Eine Gruppe sitzt auf einem Feld.
Abdalwhab (links) und seine Reisegruppe sind von Lampedusa über Paris nach Calais gekommen.

Zweite Chance in Großbritannien

Auch wenn sie von Großbritannien nicht so begeistert sind wie er, sehen sie keine Möglichkeit, Asyl etwa in Frankreich zu beantragen. Abdalwhab hat bereits Fingerabdrücke in Italien und Arian in Bulgarien bei der Ankunft nehmen lassen müssen. „Lampedusa ist zu hart, das hältst du nicht aus“, sagt Abdalwhab. Arian sagt, er sei von Grenzschutzbeamt:innen in Bulgarien geschlagen, ausgeraubt und festgenommen worden, als er die Grenze überquerte. Wieso sollte er das Land also für sicher halten? „Ich gehe nicht in dieses Land“, untermauert er und fügt hinzu, dass er sogar versucht habe, in Frankreich Asyl zu beantragen. „Ich mag dieses Land, es ist schön und die Menschen sind gut“, sagt er, obwohl seine Eltern in Großbritannien leben. Aber als die Behörden seine Fingerabdrücke genommen hätten, sei er in der Datenbank als in Bulgarien registriert vermerkt gewesen. Gemäß dem Dublin-III-Abkommen müssten die französischen Behörden ihn dorthin zurückschicken.

Ablehnung und Dublin III

Dies gilt auch für Menschen, deren Asylantrag im europäischen Ausland abgelehnt wurde und denen die Abschiebung in ihr Herkunftsland droht. Für Rahmi brauchte es nur einen Brief – und sein Traum vom neuen Leben in der Schweiz war dahin.

Nach der Ablehnung seines Asylbescheids zog er mit Frau Lana und den drei Kindern im Alter zwischen fünf und neun Jahren weiter. Mitte Juni findet er sich bereits seit drei Wochen auf dem Feld neben Bahngleisen in Dünkirchen wieder. 

Die warme Mahlzeit haben freiwillige Helfer vorbeigebracht, auf einer Holzplatte lässt sich die Familie nieder und lädt zum gemeinsamen Essen ein. Die Kinder tragen noch ein paar Spielzeuge mit sich, darunter eine Pferdefigur aus Holz. Rahmi glaubt derweil nicht, dass seine Familie nach der Kanalüberquerung nach Ruanda abgeschoben werden könnte. „Das ist fertig“, sagt er in gebrochenem Deutsch und verweist auf das EGMR-Urteil.

Mehrere Hundert Menschen warten in einem selbst errichteten Camp auf die Überfahrt nach Großbritannien. Rahmi und Lana haben ein paar Spielzeuge für die Kinder besorgt.
Das Holzpferd.
Mehrere Hundert Menschen warten in einem selbst errichteten Camp auf die Überfahrt nach Großbritannien. Rahmi und Lana haben ein paar Spielzeuge für die Kinder besorgt.
Lanas und Rahmis Sohn beschäftigt sich mit seinem Spielzeug.

Ohnehin sieht Rahmi mit seiner Familie ebenso wie viele andere Flüchtende keine Alternative zur Überfahrt. Im nordirakischen Sulaimaniyya sei ihnen nach dem Referendum über die Zugehörigkeit zu Kurdistan-Irak die Lebensgrundlage entzogen worden; der Betrieb in dem er arbeitete sei infolge der Wirtschaftssanktionen aus den Nachbarländern geschlossen worden.

Weil Rahmi anders als der Rest der irakisch-kurdischen Familie die türkische Staatsbürgerschaft besitzt und gebürtig aus Istanbul kommt, hätten die Schweizer Behörden argumentiert, sie könnten dorthin. Doch unter Machthaber Erdogan sehen sich Kurd:innen im gesamten Land Repressionen ausgesetzt, was etwa 2015 und 2016 insbesondere in Süden das Landes zu Kriegshandlungen mit dem türkischen Militär führte. „Die Politik ist das Problem“, sagt er über sein Herkunftsland.

Familie erhält nach 1,5 Jahren in der Schweiz Ablehnung

Mit der Ablehnung seines Asylantrags in der Schweiz haben Rahmi und seine Familie vorerst keine Möglichkeit, in einem anderen europäischen Land um Schutz zu bitten. “Wieso warten sie damit anderthalb Jahre?”, fragt Rahmi verbittert. Dann hätte er den Kindern wenigstens sagen können, dass es ein Ausflug gewesen wäre und früher diesen Weg bestreiten können. Doch so begann die Familie bereits, sesshaft zu werden. Eines der Kinder besuchte bereits die Schule, sie in Mathe sogar Klassenbester gewesen. Frau Lana zückt ihr Handy und zeigt Videos der Geburtstagsfeier in der Schule, wie alle Kinder gemeinsam singen und feiern.

In Calais hoffen Mitte Juni rund 1000 Menschen auf einen Weg Richtung Großbritannien. Eine kaputte Mikrowelle dient als Ablage, auf offenem Feuer kochen die Menschen Kaffee.

Nun, mit dem Negativbescheid und wegen des Dublin-III-Abkommens könnten sie theoretisch aus anderen Unterzeichnerstaaten in die Schweiz als Antragsland zurückgeschickt und von dort in die Türkei abgeschoben werden.

So wurde in Calais und Dünkirchen der Begriff „Dublin“ selbst unter denen, die kein gutes Englisch sprechen, zum Reizwort. Sobald es fällt, beginnt das Flüstern. Seit dem Brexit ist Großbritannien nicht mehr Teil des Dublin-Abkommens und gilt daher als zweite Chance, in Europa um Asyl zu bitten – wenn es ihnen gelingt, den Kanal zu überqueren. Bereits vorher hatte die Insel den Ruf, nur wenige Dublin-Rückführungen umzusetzen.

Helfer:innen bieten Informationen

Während „Dublin“ den Menschen in Calais und Dünkirchen gut bekannt ist, fehlt es ihnen oft an ausreichenden Informationen, etwa zu den Auswirkungen des EGMR-Urteils. Der Refugee Info Bus versucht, diese Lücke zu schließen. Freiwillige sammeln alle wichtigen Informationen und geben sie in mehreren Sprachen aus, indem sie den „New Arrival Guide“ (NAG) verteilen. So wissen die Menschen in Calais und Dünkirchen, welche Leistungen NGOs und der Staat erbringen. „Außerdem versuchen wir, den Menschen grundlegende Informationen über Asylverfahren in Frankreich und anderen Ländern zu geben“, erklärt die Freiwillige Beatrice Basso und betont, dass dies keine Rechtsberatung ist. Darüber hinaus teilt der Infobus die wichtigsten Fakten mit anderen Freiwilligen und Organisationen vor Ort. Wenn das Team verschiedene Orte in Calais besucht, stellt es den Menschen dort auch kostenloses WLAN und Telefonladestationen sowie SIM-Karten – einschließlich einer monatlichen Aufladung – zur Verfügung.

Als sich die Aufmerksamkeit auf die britische Politik und die Ruanda-Pläne richtete, hat sich die Situation in Calais in letzter Zeit verschlechtert. „Jetzt hat der Staat komplett aufgehört, Essen und Wasser zu geben. Sie haben nach einer großen Räumung Toiletten von einer Fläche entfernt, auch wenn noch eine kleine Anzahl von Menschen dort ist“, nennt Basso ein Beispiel. Fast jeden zweiten Tag komme es zu Zwangsräumungen, die den Menschen keine Chance ließen, sich ein wenig einzuleben. Immer wieder bedeute das, dass die Betroffenen ihre letzten Habseligkeiten und Dokumente verlören. Die Grundversorgung stemmen hauptsächlich NGOs und Freiwillige. „Der Staat stellt an drei Hauptorten in Calais Wasser zur Verfügung“, erklärt Basso. Auch in Dünkirchen ist es Freiwilligen überlassen, die großen Wasserbehälter mit bis zu 10.000 Litern Wasser an heißen Tagen aufzufüllen oder mobile Duschen aufzustellen.

Freiwillige von Mobile Refugee Support (MRS) bauen mobile Duschen auf und bieten Handy-Ladestationen an.
Mehrere Hundert Menschen warten in einem selbst errichteten Camp auf die Überfahrt nach Großbritannien. Freiwillige von Mobile Refugee Support (MRS) bauen mobile Duschen auf und bieten Handy-Ladestationen an.

81 Jahre altes Ehepaar hilft seit 15 Jahren

Guy Dequeker aus Lille ist seit 15 Jahren ehrenamtlich in Nordfrankreich tätig und verteilt heute mit der NGO Salam warme Mahlzeiten. Wenn seine Frau Regine die Schlange organisiert und die Löffel verteilt, grüßt man sie hier mit „Bonjour Mama“. Täglich werden hier rund 300 Mahlzeiten serviert, die größtenteils von Einheimischen und lokalen Unternehmen gekocht und gespendet werden. „Ich bin mit meinem Land nicht einer Meinung“, kritisiert der 81-Jährige die fehlende staatliche Unterstützung für die Menschen hier: „Unser Land macht es nicht, wir machen es.“

Gerade in Dünkirchen haben Schleuser-Netzwerke – “Passeurs” gennant – diese Abwesenheit genutzt, um ihr kriminelles Geschäft auszuweiten. Im Mai verängstigte eine Schießerei zwischen rivalisierenden Gruppen im Camp Anwohner und Freiwillige. Es ist kein Geheimnis, wer in den Mercedes-Autos den Feldweg entlang fährt. Arian würde es daher nicht wagen, hier ohne bezahlten Schmuggler in ein Boot zu steigen. „Wenn du alleine gehst, wird der Schmuggler auf dich schießen, dich töten“, sagt er. Schmuggler hätten die verschiedenen Teile der Küste unter sich aufgeteilt und seien für ihr Territorium verantwortlich. Nachdem er den kurdischen Irak verlassen hat, um nicht in Clankämpfe verwickelt zu werden, stößt er nun in Nordfrankreich auf kriminelle Netzwerkstrukturen. Eines Tages, wenn das Meer ruhig ist und der Schmuggler grünes Licht gibt, hofft er, mit seinen Eltern wieder zusammenzukommen und ein normales Leben in Großbritannien zu führen und nicht nach Bulgarien oder Ruanda abgeschoben zu werden.

Ein Beleg für legale Wege

Dass Großbritannien durchaus in der Lage ist, sichere Fluchtwege zu ermöglichen, hat Clare Moseley in den vergangenen Wochen beobachtet: Als die Menschen vor dem Krieg in der Ukraine flüchteten und über Calais nach Großbritannien einreisen wollten, hätten in der Hafenstadt zügig Visazentren geöffnet und die erforderlichen Dokumente ausgestellt. Inzwischen gehe das sogar online. Dabei haben auch sie in der Regel zuvor andere europäische Länder durchquert, die Großbritannien als sicher einstuft. „Kein Ukrainer bezahlt Schmuggler, um in kleine Boote zu steigen“, sagt Moseley. Für sie sei das Beleg, dass sichere und legale Wege das illegale Geschäft der Schmuggler beenden würden.

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