Während zahlreiche Menschen die Millionenstadt Dnipro wegen des nahenden Krieges verlassen haben, finden Hunderttausende hier Zuflucht – und organisieren humanitäre Hilfe.
Ein Ort der Flucht und Zuflucht zugleich: Mehr als 200.000 Menschen aus den besetzten Gebieten haben in den vergangenen Wochen in Dnipro Schutz gefunden. Weil die Rüstungsindustrie-Stadt jedoch auch immer wieder Ziel von Raketenangriffen wird, die Front im Süden nur rund 100 und im Osten 200 Kilometer entfernt liegt, haben sich auch zahlreiche Menschen von hier auf den Weg nach Westen gemacht.
Inmitten dieser unübersichtlichen Lage behält eine Gruppe junger Menschen einen kühlen Kopf. Das frühere Theater, dient nun als Hilfszentrum. Bis zu Beginn der russischen Großoffensive hatte hier das Jugendzentrum Mol Centr Dnipro seine Räume, die es nun für die Koordination nutzt. Das Foyer haben die Aktiven zur Kleiderkammer umfunktioniert. Im Eingangsbereich stapeln sich Lebensmittelkisten. Ein unterirdischer Verbindungstrakt dient als Luftschutzbunker. In Büros lagern Lebensmittel. In einem weiteren Verbindungstrakt wird der Platz eng – so viele fertige Kartons liegen hier aneinandergereiht. In den kommenden Stunden sollen sie an die Adressat:innen gehen. Doch leer wird es hier selten. „Die ganzen Kartons gehen an einem Tag raus“, erzählt Diana Spichak. Die 17-Jährige ist eine der vielen jungen Ehrenamtlichen hier. Im Video führt sie durch die Räumlichkeiten.
22.000 Haushalte stünden auf der Liste der Ehrenamtlichen des Jugendzentrums, das Teil des staatlich unterstützen Netzwerkes an Hilfsorganisationen, SpivDiia (спів дія) ist. „Das sind 33.000 Menschen“, führt Spichak aus. Damit sei der Standort in Dnipro der größte im Land.
Spichak ist selbst mit ihrer Familie von Charkiw nach Dnipro geflüchtet. Sie lebte bis zu Beginn der russischen Großoffensive im inzwischen besonders schwer vom Krieg betroffenen Stadtteil Saltivka. Wie sie engagieren sich vor allem junge Menschen und Binnenvertriebene in dem Jugendzentrum. Spichak arbeitet am liebsten mit ihrer Mutter am Eingang an der Registrierung:
Hier kann ich den Krieg vergessen, ich lese keine Nachrichten über meine Stadt. Wenn du hier bist, kannst du helfen und etwas tun; nicht nur in der Wohnung auf dem Sofa sitzen.
Mit internationaler Unterstützung haben die Jungen hier eine beachtliche Logistik aufgebaut. Jedes der Pakete verfügt über eine eigene Nummer. Sie seien den individuellen Bedarfslisten entsprechend gepackt. „Dann rufen wir an und sagen, dass sie kommen können“, erzählt Helferin Tatiana, die sich auf die Telefonate konzentriert: „Wenn jemand in einer anderen Stadt lebt und nicht kommen kann, liefern wir auch.“ Dafür stünden zum einen Freiwillige bereit, zum anderen sei ein Versand über die Post möglich.
Das Jugendzentrum ist derweil nicht das Einzige, das sich in Dnipro um die Mitmenschen kümmert. In vier Unterkünften, darunter einem Hotel, beherbergt und versorgt „Kust“ rund 350 Menschen. „Wir bieten Essen, Kleidung, Medizin, Hygiene, psychologische und juristische Beratung“, listet Koordinatorin Iryna Bondarevska auf. Mit der humanitären Hilfe hatte die Organisation, die sich eigentlich als Bewegung für Kulturveranstaltungen und Festivals in Dnipro versteht, bis zum Beginn der groß angelegten russischen Offensive nichts zu tun. Doch seit dem dritten Kriegstag, dem 26. Februar, betätigten sich rund 100 Aktive aus verschiedensten Berufen in der Hilfe für die Binnenvertriebenen in der Großstadt.
Leicht sei diese Umstellung nicht gewesen, räumt die Koordinatorin ein. „Aber wir wollen und können den Menschen helfen“, betont die 24-Jährige. Von Null gestartet hätten sie ein System zur Unterbringung der Menschen entwickelt, Kleidung und Nahrung sortiert, Notebooks und Telefone besorgt. „Wir haben auch eine Art Call-Center, durch das die Menschen Hilfe bekommen können. Wir vermitteln an die passenden Stellen“, führt Bondaresvka aus.
Denn klar ist auch, wenn eine Millionenstadt innerhalb weniger Tage um rund 200.000 Menschen wächst, wird der Platz schnell eng. Die meisten lebten nach wie vor in Notunterkünften wie Hallen, leerstehenden Gebäuden oder Hotels. Vor allem Neuankommende seien in den ersten Tagen oft in schlechter psychischer Verfassung. „Ukrainer:innen denken, dass ein Psychologe nicht so wichtig ist“, sagt Bondaresvka. Hilfe auf dieser Ebene sei daher nicht immer einfach. Die Fachkräfte versuchten daher, auf freundschaftliche Art zu unterstützen und das gesamte Zentrum sei auf eine familiäre Atmosphäre ausgerichtet.
Das haben auch Polina Zoicseva und Sergey Len mit der einjährigen Tochter Emilia erfahren. Bevor sie Mitte März aus Rubischne (Oblast Luhansk) flüchteten, versteckten sie im Keller. „Wir haben Bomben und Feuer gesehen und es mit Schnee gelöscht“, erzählt die 23-jährige Zoicseva. Nach zweitägigem Aufenthalt in Kramatorsk brachten die Busse sie schließlich nach Dnipro. Dort vebrachte die Familie zwei Wochen in einer Unterkunft und lebt seitdem in einem Hotel.
Trotz der traumatisierenden Erfahrungen erlebte die Familie in dieser schwierigen Zeit auch einen schönen Moment. Als die beiden Eltern herausfanden, dass auch Binnenflüchtlinge heiraten dürfen, gaben sie sich am 30. April das Ja-Wort. „Wir haben viele Leute eingeladen“, freut sich Len über diesen Tag; auch wenn sie die meisten Gäste nicht groß kannten. Denn Kust half bei der Organisation der Feier und zahlreiche Binnenvertriebene beglückwünschten das Paar. „Dafür sind wir wirklich dankbar“, sagt er freudestrahlend.
Nur bei der Frage nach der Zukunft scheinen sich die beiden noch nicht ganz einig zu sein. „Ich fühle mich gut hier“, sagt Len, während er das Kind auf seinem Schoß hält. Zurück nach Rubischne wolle er nicht mehr. Zoicseva dagegen wischt sich über die nun feuchten Augen, schaut hoch zur Decke. „Ich vermisse mein Zuhause“, sagt sie. Zumal sie sich um die Zukunft ihres Kindes Sorge und die Familie finanzielle Schwierigkeiten zu meistern habe.
Die Situation in Dnipro beschreiben derweil viele Gesprächspartner:innen als ruhig, sie hielten ihre Stadt für sicher. Dabei haben nur wenige Tage vor dem Besuch Raketen nahe des Stadtzentrums eingeschlagen. „Wir gewöhnen uns an den Krieg und bleiben ruhig, wenn die Sirene ertönt“, sagt etwa Kust-Koordinatorin Bondaresvka. Bei der Frage nach der Sicherheit in der Stadt schmunzelt die 17-Jährige Diana Spichak. „Nur“ ein Einschlag? „Das ist wie Blumen“, sagt sie, „in Charkiw hatten wir 20 oder 30 an nur einem Tag.“
Doch gut fühle sie sich in dieser Situation nicht, räumt sie ein. Allein, dass sie nun nicht mehr an die Universität könne und nach der Pandemie schon wieder Fernunterricht habe… „Irgendwas hier“, sagt sie und zeigt auf ihr Herz, „schmerzt wirklich sehr. Weil es ist unsere Stadt.“ Wie die in Zukunft aussehen wird, wisse sie auch noch nicht. Doch die Ukrainer:innen würden sie sicher wieder aufbauen. „Unser Sieg kommt“, zeigt sie sich trotz der dramatischen Situation in ihrem Land optimistisch.
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