Charkiw: Sieg auf Trümmern

Charkiw: Sieg auf Trümmern

Ein Mischung aus Benzin- und Gasgeruch liegt in der Luft, auf einem der Grundstücke ernähren sich noch immer die Flammen davon. Vier Tage ist es am Donnerstag, 12. Mai, her, dass die ukrainische Armee Tsyrkuny zurückerobert hat. Oder das, was von dem Vorort von Charkiw noch übriggeblieben ist.

Zum Zeitpunkt des Besuchs befindet sich die ukrainische Gegenoffensive noch in vollem Gange. Aus dem Stadtgebiet hat die Armee den Feind bereits verdrängt. Raketeneinschläge verzeichnet Charkiw seit einigen Tagen nicht mehr. Die schwarzen Rauchwolken am Horizont, die aus der Innenstadt erkennbar hinter den Hügeln aufsteigen, zeugen ukrainischen Soldaten zufolge davon. Auch das Grollen der Artillerieabschüsse, das auch einige Kilometer entfernt noch deutlich zu hören ist, führen sie auf die erfolgreichen Vorstöße ihrer Kamerad:innen zurück.

Von Tsyrkuny aus liegt die Front deutlich näher. Kaum acht Kilometer nach Norden hin, rund drei nach Osten, wie aus Daten der Liveuamap hervorgeht. Menschen befinden sich hier kaum noch auf den Straßen. Fotos und Videos dürfen wir nur aus dem Auto heraus anfertigen, zu groß ist die Gefahr, dass zwischen den Trümmern oder am Straßenrand noch Minen liegen. Doch auch aus der Fahrt heraus lässt sich das Ausmaß der Zerstörung hier dokumentieren. Die Kirche St. Nicholas ist eines der wenigen Gebäude, das die Kämpfe augenscheinlich gut überstanden hat.

Weiter zurück im Stadtgebiet, im Bezirk Saltivka, leben noch immer Dutzende Menschen in einer U-Bahn-Station. Auf Matratzen und in Schlafsäcken und Decken eingehüllt vereinnahmen sie hier die Treppenstufen und den Vorraum. Im Gang davor verteilen Freiwillige Mahlzeiten. Es sind nur wenige Dutzend Treppenstufen vom wärmenden Sonnenschein hin in eine gänzlich andere Dunkelwelt.

Noch immer ist die Atmosphäre hier von Angst und Unsicherheit geprägt. Kommen die Kämpfe vielleicht doch noch einmal zurück? Rußspuren selbst an den oberen Etagen der umliegenden Hochhäuser, zerborstene Fensterscheiben und bis auf die Metallgerüste abgedeckte Gewerbeflächen zeugen von der Gewalt der zurückliegenden Tage in Charkiw.

Eine ähnliche Spur der Verwüstung zieht sich entlang der Fernstraße E105, über die russische Panzer fast bis zum Gorki-Park in Charkiw gerollt sein sollen; fast 4000 Kilometer lang umfasste sie einst die Route von Jalta auf der von Russland annektierten Krim bis hin ins norwegische Kirkenses. Auf dem Weg dorthin liegen noch Trümmer eine Rakete am Wegrand. Die angrenzende Schule für Physik und Technologie (Phystech) der Nationalen W.-N.-Karasin-Universität Charkiw ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Wie ein Raketeneinschlag an einem mehrstöckigen Haus aussieht, lässt sich in einem nahegelegenen Wohngebiet erkennen.

Derweil lässt sich nicht jedes zerstörte Haus russischem Beschuss zuordnen, wie Report vor Ort in Charkiw erfährt. Doch seien sie dem Einmarsch der Truppen geschuldet: Die Trümmer eines Schulgebäudes gingen etwa auf das Konto des eigenen Militärs. 17 russische Soldaten hätten sich hier verschanzt gehabt, doch nur vier das Angebot angenommen, sich zu ergeben. „Also kam ein Panzer und hat auf jedes Fenster geschossen“, heißt es. Krieg ist erbarmungslos.

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