Diyarbakır: Die Folgen des innertürkischen Krieges

Diyarbakır: Die Folgen des innertürkischen Krieges

Die Parteiflaggen wehen deutlich sichtbar über der Straße, in das Büro der HDP in Diyarbakır gelangen Besucher:innen dennoch nur über einen Seiteneingang. Während der Kampfhandlungen 2015 war die Altstadt im mehrheitlich kurdisch Bewohnten Viertel Sur Ursprung und mit am schlimmsten betroffen. Die damals verhängte Ausgangssperre ist auch sechs Jahre später offiziell noch nicht aufgehoben. Auch wenn das Quartier kaum mehr bewohnt ist, gilt die Ausgangssperre als die längste der Welt.

“Politischer Völkermord”

Sie ist auch ein Sinnbild des Konflikts zwischen türkischem Staat und kurdischer Minderheitsbevölkerung im Land. Bereits während des 2013 begonnenen Friedensprozesses habe die Regierung versucht, zu provozieren. „Mit provozieren meine ich einen kulturellen und politischen Völkermord und es passiert jetzt noch, wie mit der Stadtmauer und der Altstadt“, sagt Murat Öndes. Er ist Co-Vizepräsident der HDP in der Provinz Diyarbakır und zuständig für die organisatorischen Aktivitäten der Partei. Kurdische Kultur und Geschichte seien zerstört, geleugnet worden.

Er erklärt die Ausschreitungen, die zu einem mehr als 100 Tage dauernden Häuserkampf führten und mehr als 80 Prozent des Stadtteils zerstörten: „Im Friedensprozess wollten die Kurd:innen immer ein eigenes, selbst regiertes Gebiet erreichen.“ Dabei sei nicht etwa ein komplett autonomes Gebiet das Ziel gewesen. Sie hätten lediglich ihre Sprache, Kultur und Identität verfassungsrechtlich geschützt sehen wollen. Krieg oder Gewalt sei nicht das Ziel gewesen. Doch:

Als die kurdischen Bewohner verstanden haben, dass der Friedensprozess gar nicht ernstgenommen wurde, führte das zu der Reaktion.

Murat Öndes

Murat Öndes

Co-Vizepräsident des HDP-Provinzverbands in Diyarbakır

Für eine friedliche Lösung

Und die Rolle der HDP? „Die Partei hat sich allein dafür gegründet, den Konflikt friedlich zu lösen. Die Partei ist also gegen jede Art von Krieg“, wirft Gülşen Özer ein. Sie ist eigentlich seit März 2019 Co-Bürgermeisterin der Stadt Bismil, doch im Oktober des gleichen Jahres wurden sie und Orhan Ayaz durch einen Treuhänder der Regierung ersetzt – so wie eigentlich alle ihrer Kolleg:innen. Sie sagt, die Regierung habe den Friedensprozess mit Anschlägen und Angriffen auf Demonstrationen unterminiert und so eine gewalttätige Reaktion zu provozieren.

Sie brauchen den Krieg, um den Nationalismus innerhalb der nicht-kurdischen Bevölkerung zu wecken.

Gülşen Özer

Gülşen Özer

Gewählte und abgesetzte Co-Bürgermeisterin von Bismil und Co-Vorsitzende des HDP-Provinzverbandes Diyarbakır

Özer zeigt sich überzeugt, dass es eine friedliche Lösung geben kann, eine Grundlage für ein friedliches Zusammenleben. Aus diesem Grund habe die HDP auch versucht, zwischen Regierung und PKK zu vermitteln. „Aber dazu gehören beide Seiten, auch der Staat muss mitziehen“, sagt die Co-Vorsitzende. Zunächst habe es auch Schritte in die richtige Richtung gegeben, doch dann seien die Bemühungen schließlich im Krieg geendet.

Krieg verändert Demografie in Diyarbakır

Mit den Angriffen auf Sur habe das türkische Militär schließlich die Demografie der Stadt zerstört, sagt Öndes. „Die meisten Leute dort waren arm. Jetzt bauen sie Luxushäuser“, führt Öndes aus. Selbst wenn die früheren Bewohner:innen also zurückkehren wollten, könnten sie sich die Mieten nicht mehr leisten. Stattdessen zögen regierungstreue Menschen in das Viertel. Er erwarte, dass die Regierung die Verhandlungen wieder aufnehme. Erst mit einem in der Verfassung garantierten Schutz der Rechte der kurdischen Bevölkerung könne ein Friedensprozess eingeleitet werden.

Ein Überbleibsel eines Wohngebietes in Sur.

Das historische Viertel in Diyarbakır weicht prunkvollen Neubauten.

Türkei-Fahnen und Erdoğan-Fotos sind in den kurdischen Gebieten dauerpräsent.

Ein Existenzkampf

Auf die Frage, ob die mehrheitlich kurdisch bevölkerten Regionen in der Türkei Kriegsgebiete seien, also so bezeichnet werden könnten, nicken sie zustimmend. „Die Regierung will, dass Kurd:innen ihre Sprache und Kultur vergessen“, sagt Mehmet Deviren, Co-Bürgermeister von Yenişehir und Co-Vorsitzender der kurdischen Literaturverbands. In keinem der vier Länder mit nennenswertem kurdischen Bevölkerungsanteil hätten sie Grundrechte, würden systematisch unterdrückt. Dabei wohnten sie dort bereits länger, als die heutigen Nationalstaaten existrierten. „Die Kurd:innen fangen jetzt an zu reagieren“, sagt Deviren. Sie kämpften um ihre Rechte und Existenz.

Anders als etwa Syrien handhabe die türkische Regierung die Menschenrechtsverletzungen jedoch besser, etwa durch die Kontrolle der Medien. Der Krieg sei auch weniger physischer Natur als politischer und sozialer. „Europa ignoriert die Menschenrechtsverletzungen“, macht Deviren einen weiteren Unterschied aus. Selbst Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zögen kaum Folgen mit sich. „Wir vermissen eine starke, entschlossene Reaktion Europas“, kritisiert auch Özer.

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