Aleksandr Semenchenko hat die ganze Welt bereist, jetzt ist er zurück in Kyjiw. Für Musiker wie ihn ist es schwierig, Geld zu verdienen.
Zwei Charaktereigenschaften haben Aleksandr, Sascha, Semenchenko fast sein ganzes Leben lang begleitet: eine gute Intuition und danach zu handeln. Beides führte dazu, dass er die ukrainische Hauptstadt Kyjiw am 21. Februar verließ, nur drei Tage, bevor Russlands Großoffensive begann und Kolonnen von Militärfahrzeugen in Richtung seiner Heimat vorrückten. Es war der Tag, an dem Russland beschloss, die selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängig anzuerkennen.
Obwohl er sich mit seiner Vermutung geirrt hatte, dass es am 22. Februar losgehen würde, stellte sich seine Entscheidung, die Eltern in Ternopil in der Westukraine zu besuchen, als richtig heraus und war den Streit mit seiner Frau wert. „Im besten Fall haben wir drei Tage Urlaub und kommen am 24. zurück“, erinnert sich Semenchenko. Sie blieben ungefähr einen Monat mit nur einer kleinen Tasche mit Kleidung und Habseligkeiten und ihren zwei Hunden.
Die Kämpfe um Kyjiw waren noch nicht beendet, als die Familie in die Hauptstadt zurückkehrte. Aber da die Eltern seiner Frau dort leben und der Vormarsch an den Stadtgrenzen zum Erliegen kam, sagte ihm seine Intuition, dass es schon gut werden würde. „Jeden Tag haben wir die Sirenen und Explosionen gehört“, erzählt Semenchenko. Es sei wie in einem Film gewesen mit Müll überall, einer Stadt im dystopischen Stress, in der nichts funktioniert, U-Bahn-Stationen sich in Notunterkünfte und Ausgabestellen für die Essen verwandelten. Aber er erlebte auch: „Die Menschen fingen an, sich umeinander zu kümmern.“
Sie kehrten jedoch nicht sofort in ihr zuhause zurück, das in der Nähe des Waldes in Richtung Butscha liegt. „Als wir das erste Mal dort waren, war das wie eine Apokalypse“, beschreibt Semenchenko. Keine Menschen, dafür Explosionen in der Nähe, schwarzer Rauch stieg am Horizont auf. Videos, die er von dieser Szene gemacht hat, belegen, dass die Kämpfe immer noch nah waren.
Aber er ging nicht ohne das Jagdgewehr, das er während seines Aufenthalts in Ternopil gekauft hatte. Obwohl er nicht wirklich erfahren damit ist, wie der 32-Jährige zugibt: Am ersten Morgen in Kyjiw wachte er wegen eines Geräuschs auf, nahm die Waffe und rannte in die Küche – nur um festzustellen, dass die beiden Hunde ein Glas zerbrochen hatten – und er hatte vergessen, die Waffe mit Munition zu laden. Semenchenko sagt und lacht:
Danach habe ich verstanden, dass ich in dieser Situation nicht so nützlich bin.
Während die Hauptstadt der Ukraine allmählich zu einer Art normalem Leben zurückkehrt oder viel mehr weitermacht, konzentriert sich Semenchenko auf seinen Beruf als Künstler und Entertainer. In seiner aktuellen Show präsentiert er sich als Musikkoch. Angezogen wie ein Koch, kocht er Melodien statt Essen. Ausgestattet mit einer Gitarre und seinem Piano mischt der Profimusiker mit seinem Looper die Sounds und ergänzt sie um Gesang. So wird die Bühne zu seiner „Musikküche“, wie er die Comedy-Show nennt, die seinem Publikum eine Freude bereiten soll.
Semenchenko absolvierte 2007 die Kyiv Circus Academy als Klavierspieler, Pantomime-Künstler, Tänzer und Choreograf. „Ich habe alles versucht, ich tauchte in das künstlerische Leben ein“, erinnert er sich lächelnd. Seine Karriere begann zusammen mit einer Kollegin auf einem Kreuzfahrtschiff, als sie mit ihrer Bewerbung von 25 Liedern den Zuschlag erhielten und behaupteten, sie hätten 150 – was sie nicht taten. „Wirklich: Wir haben Tag und Nacht in der Kabine geprobt“, erinnert er sich an ein stressiges Debüt, bei dem er versuchte, das Repertoire zu verbessern, und nervös wegen seines Akzents angesichts zahlreicher Amerikaner:innen im Publikum war. Aber es funktionierte.
Nach der unerwarteten Abreise seiner Kollegin aufgrund von Visa-Problemen sollte sich seine Ausgangslage sogar verbessern, da er solo auftreten musste. „Ich sagte, gebte mir eine späte Vorstellung“, erzählt Semenchenko zunächst von großer Unsicherheit. Doch das Publikum wusste seine Auftritte zu schätzen, besonders die Ukrainer:innen und Russ:innen, die mit ihrem Landsmann oft lange Partynächte feierten. Aber zwei Wochen später, in Miami, wurde er aufgefordert, das Schiff ebenfalls zu verlassen. „Ich war bereit, nach Hause zu gehen, auf Wiedersehen“, sagt Semenchenko. Stattdessen wurde er zu seiner Erleichterung auf ein anderes Schiff gebucht, das in die Karibik fuhr. „Aber sie brauchten einen Pianisten, ich bin kein Profi, ich bin Gitarrist“, erwartete er die nächsten Probleme, da er nur Akkorde lesen konnte, keine Noten. Also zückte der Bandleiter seinen Stift, durchkreuzte die Noten und schrieb ihm die Akkorde in das Liederbuch. „Dort bin ich als Pianist gewachsen“, sagt er und verweist auf weitere Verträge in der Folgezeit.
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2019 kehrte er nach Kyjiw zurück, trotz eines viel schwierigeren Umfelds für Künstler:innen aufgrund fehlender Infrastruktur und eines korrupten Systems und der Menschen, die nicht viel Geld für Tickets ausgeben konnten. Deshalb hat sich Semenchenko entschieden, seine Show auf kleineren Events wie Hochzeiten oder Firmenfeiern zu veranstalten und als zweites Standbein ein E-Commerce-Geschäft zu betreiben. Das hat ihm schon durch die Pandemie geholfen, die seiner Meinung nach viel schwieriger war als die jetzige Kriegsphase. „Jetzt kannst du Hilfe von der Regierung bekommen”, erklärt er und verweist weiter auf die enorme Unterstützung, die die Ukraine jetzt aus der ganzen Welt erhält.
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