Vom Privileg des Willkommenseins

Vom Privileg des Willkommenseins

Deutschland kann Willkommenskultur – allerdings nicht für eine kleine Minderheit. Derzeit gilt ein Ausreisestopp für gefährdete Menschen in beziehungsweise aus Afghanistan, die von Deutschland eine Aufnahmezusage erhalten haben.

Hallo Deutschland, jetzt reicht’s

Ich habe das mit diesem Wohlwollen geübt, geübt und geübt. Ernsthaft.

Ja, Deutschland, du kannst Willkommenskultur, wenn du nur willst. Wir haben ein Problem mit bezahlbarem Wohnraum – oder eben ein Problem damit, dass es davon zu wenig gibt. Wir haben eine Klimakrise, steigende Lebensmittel- und Energiepreise sowie einen Krieg in Europa, der alle auf Trab hält.

Wir schaffen das – oder?

Und dennoch haben wir allein im Jahr 2022 eine Million Menschen aus diesem Kriegsland – der Ukraine – allein in Deutschland aufgenommen. Gut so! Wir schaffen das, könnte man sagen, liebes Deutschland.

Und doch lässt du Menschen im Stich, denen du konkret Hilfe zugesagt hast. Ganz aktuell ganz konkret.

  • Da ist der Staatsanwalt mit seiner Frau, die im sechsten Monat schwanger ist. Der sein Haus für die Ausreise verkauft hat. Der die Taliban früher verfolgt hat, rechtsstaatlich, und nun selbst der Verfolgte ist.
  • Da ist die junge Frauenrechtsaktivistin, die aus Angst kaum das Haus verlässt und deren Vater sie dringend verheiraten mag, weil seine Gesundheit schlecht ist und die Mutter der Frau schon lange tot.
  • Da ist die junge Frau, deren Bruder ausgepeitscht wurde, nur weil er sich einen Pass zur Ausreise besorgen wollte. Wer gehen will, gilt als Verräter.
Screenshot einer E-Mail mit folgendem Text: Dear Sir/Madam; The Afghan Prosecutors' Association thanks and appreciates the trust, support, attention and humanitarian cooperation of the German government and the organizations, institutions and organizations supporting human rights and asylum, immigrants. As you know, a number of people at risk, including judges and prosecutors of Afghanistan, have already received confirmation of acceptance from Germany, and they have been given (BAMF) number and (BMI) file number by the German government, and they have also been promised to be transferred to Germany. The giz organization guided and advised those prosecutors who were approved to be admitted to Germany, to travel to Iran and Pakistan, to be transferred to Germany from there. Afghan prosecutors, hoping to be transferred to Germany, sold all their property and household goods and prepared passports and visas for Iran and Pakistan for their family members. Unfortunately, the German visa process for people at risk in Iran and Pakistan has been suspended. With the suspension of the process, the Afghan prosecutors were left homeless, hopeless and in the worst security and economic conditions, because most of the relatives, neighbors, local people and also the intelligence of the Taliban were informed that a certain prosecutor was planning to leave Afghanistan. Because selling goods and household property and trying to get passports and visas for Iran and Pakistan means leaving Afghanistan. The prosecutors who were approved by Germany are in more danger than in the past, the Taliban may arrest and kill them as spies of foreign countries, including Germany, at any moment. so that, Taliban have killed 32 prosecutors since August 15, 2021. The Association of Afghan Prosecutors requests you, the organizations, human rights institutions and the protection of asylum respectfully, to discuss the issue with the high authorities of the German government so that the process of transferring the people at risk (prosecutors) as in the past, after a careful investigation. Until the start of the transfer process, financial support should be given to the people at risk who have received German approval. Because they are in the worst economic and security conditions. It is hoped that the approval of Germany's acceptance will not cost the lives of prosecutors and other people at risk. Thank you in advance for your kindness.
Screenshot Staatsanwalt aus Afghanistan

Ich kann nachvollziehen, dass neue Situationen schwierig sind, und ja, ich habe auch Verständnis dafür, dass es überfordern kann, Menschen zu helfen.

Die ausbleibende Krise

Komischerweise oder glücklicherweise las ich nirgends von einer Flüchtlingskrise oder einer Flüchtlingswelle, die uns überschwemmt hat, als eine Million Ukrainer*innen 2022 zu uns kamen – anders als 2015, als es nur halb so viele Menschen waren.

Und jetzt?

Sind uns die Menschen schon wieder zu viel; sie überfordern uns.

Aber nein, nicht DIESE Menschen.

Die eine Million; wir schaffen das.

Krise für Minderheiten

Was wir kaum schaffen, das sind die “irregulär” Flüchtenden über die Balkanroute, die kein Viertel der Zahl der Ukrainer*innen ausmachen. 

Und wer ganz gezielt gegen die Ukrainer*innen aufgerechnet wird, das ist eine der kleinsten Gruppen von allen: Afghan*innen, denen Deutschland humanitäre Aufnahmeprogramme zugesagt hat; eines für ehemalige Mitarbeiter*innen deutscher Behörden in Afghanistan (das seit 2013 mehr schlecht als recht läuft) und eines für andere hochgefährdete Menschen, das beinahe gekippt worden wäre, weil ja bereits so viele Menschen aus der Ukraine aufgenommen werden mussten.  Letztlich wurde es dann beschlossen, aber auch deutlich gedeckelt; maximal 1000 Personen im Monat. Dabei wird in der Kommunikation gern mit allen Gefährdeten zusammengenommen gerechnet – so dass sich die Frage stellt, wozu es überhaupt unterschiedliche Aufnahmeprogramme gibt, wenn am Ende doch alle “in einen Topf” geworfen werden.

Ob es einfach nur besonders kompliziert sein soll?

Es gibt Menschen, die fallen dabei irgendwie durchs Raster, obwohl sie nachweislich gefährdet sind.

Ein kurzer Exkurs

Darunter Menschen, die laut reformbedürftigem – im Koalitionsvertrag ist diese Reform drin – Ortskräfteverfahren keine Ortskräfte sind, obwohl sie mit und für deutsche Behörden gearbeitet haben. Blöd halt, wenn man den Vertrag mit einem Subunternehmen hat oder scheinselbstständig war. Oder Menschen, die kategorisch ausgeschlossen werden, weil sie für die Polizei gearbeitet haben oder als Soldat und nicht gleichzeitig Ortskraft waren. … aber das ist eine andere Geschichte.

Was wir also nicht schaffen, das sind maximal 1000 Personen im Monat aus Afghanistan.

Und aktuell sind es exakt… 0 Menschen im Monat.

Es gibt nämlich einen Ausreisestopp.

Heißt: Botschaftstermine wurden abgesagt, Flüge gestrichen, selbst eigentlich ausgestellte Visa nicht ausgehändigt.

Bitte warten…

Zwei bis drei Monate soll das jetzt dauern. Menschen, die seit Monaten bangen, endlich Sicherheit in greifbarer Nähe sahen, werden nun gebeten, doch in Afghanistan zu warten, auf „Anweisung“ zu warten, wenn klar ist, wie es weitergeht.

Es geht um Menschen, denen Deutschland bereits eine Aufnahmezusage erteilt hat.

Das heißt: Menschen, deren Gefährdung Deutschland höchstoffiziell anerkennt, sagt dasselbe Deutschland, dass sie jetzt doch bitte in dem Land, in dem sie anerkanntermaßen gefährdet sind, nochmal zwei bis drei Monate warten sollen, nachdem sie sich mit Passbeschaffung, Visumantrag für Drittland und zumeist auch dem Verkauf von Haus, Hab und Gut „geoutet“ und zusätzlich gefährdet haben.

Und der Grund dafür?

Der Verdacht auf Missbrauchsversuche.

Missbrauchsversuche, die aufgedeckt wurden, bevor die besagten Personen ausgereist sind.

Laut epd zählt dazu, dass jemand versucht hat, seine Nichte als seine Tochter auszugeben, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. Wirklich fatal! Gefährlich für Deutschland, dass jemand eine junge Frau rettet, die er als Nichte nicht mitnehmen dürfte, weil die Nichte eben nicht zur Kernfamilie gehört, die man mitnehmen kann…

Stahltür mit großen Riegeln und Fenster zum Aufschieben.
Die Tür des Saferooms in einem Gästehaus einer deutschen Organisation in Kabul. Leider gibt es keine solche verlässlichen Maßnahmen für den Weg aus dem Land.

Ausnahmen mit erweitertem Familienkreis werden sehr selten gemacht und da ist es schon besonders, wenn die eigene, erwachsene, unverheiratete Tochter ausreisen darf.

Wo kein Wille ist, ist kein Weg

Es geht also nicht etwa um Gefährder, Kriminelle oder Gründe, die Deutschland tatsächlich gefährden oder überfordern könnten.

Dass wir Flüchtlinge aufnehmen können, haben wir 2022 bewiesen; mit dieser einen Million.

Da wäre es doch gelacht, wenn wir jetzt an 1000 Menschen im Monat scheitern, die angekündigt, geplant, geregelt, regulär einreisen?

Für alles andere fehlt mir trotz allem Verstehenwollen das Verständnis.

Und für alles Weitere fehlen mir inzwischen auch die Worte.

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