Wadim Tereschtschuk ist Mitglied des Rates von Odesa. Da die Stadt unter Militärverwaltung steht, können Lokalpolitiker:innen nicht viel entscheiden. Aber sie haben andere Sorgen.
Es sei nicht die Zeit, über Kommunalpolitik nachzudenken, sagt Wadim Tereschtschuk. Er ist Mitglied in Odesas Stadtrat und weiß, dass die Stadtverwaltung und das ganze Land seit der groß angelegten Invasion durch Russland im Februar 2022 vor dringenderen Herausforderungen stehen. „Es geht jetzt nicht um Entwicklung. Es geht ums Überleben“, betont er.
Im August 2022 bleibt Odesa die letzte Großstadt am Schwarzen Meer unter vollständiger ukrainischer Kontrolle. Während die Streitkräfte eine Gegenoffensive starten, um den Aggressor weiter von Mykolajiw wegzudrängen – nur 130 Kilometer nordöstlich der Stadt – und Cherson weitere 100 Kilometer südöstlich zurückzuerobern, sieht Tereschtschuk immer noch eine reale Bedrohung für Odesa. „Wir haben immer noch dieses Pridnestrovie (ukrainisch für Transnistrien) Problem, wo sie Truppen und die Fähigkeit haben, einen bedeutsamen Angriff im Rücken unserer Streitkräfte zu starten“, warnt er. Wenn es die Situation zulässt, wird es auf jeden Fall neue Versuche geben, die Stadt einzunehmen, ist Tereschtschuk sicher.
Aus Angst vor einer russischen Besatzung schickte er seine Familie, darunter seine zwölfjährige Tochter, im März dieses Jahres nach Österreich. Die Entscheidung fiel, nachdem sich die Familie während eines Luftalarms in einem Parkhaus versteckt hatte, das als Luftschutzbunker diente. „Sie sagte: ‚Oh Papa, warum bleiben wir nicht hier und gehen nicht raus?’“, erinnert sich Tereschtschuk. Ein Kind sollte nicht unter solchen Bedingungen aufwachsen. „Es war auf jeden Fall schwer für sie, von mir getrennt zu werden“, sagt er und erzählt von den täglichen Fragen, wann er zu Besuch kommt, was sie tun kann, um zu helfen. Durch den Verkauf von selbstgemachten Armbändern hat sie bereits 300 Euro gespendet und Kompressionsbandagen im Wert von 250 Euro gekauft. „Jetzt spricht sie davon, dass sie sich nicht vorstellen kann, wie gut es ihr hier ging und wie sie zur Schule gehen konnte“, schildert der 44-Jährige weiter.
Tereschtschuk erinnert sich an gemeinsame Reisen durch das Land, um an Basketballspielen teilzunehmen und oder sie anzusehen. Aber Freizeitaktivitäten wie das Jubeln im Stadion sind für Ukrainer:innen derzeit unmöglich. Das ist insbesondere für Odesa schmerzhaft, da der Sommertourismus für die Lokalwirtschaft von entscheidender Bedeutung ist. Während die Welt beobachtet, wie mit Getreide beladene Schiffe die Häfen verlassen, die etwa 80 Prozent der Frachtexporte des Landes ausmachen, bleibt die Stadt ein Schatten ihrer selbst. „Normalerweise würde die Stadt jetzt das Doppelte ihrer Einwohner:innenzahl beherbergen“, betont er.
Bars, Strände, Clubs und Hotels waren nicht nur bei Kyjiwer:innen beliebt, sondern auch bei internationalen Gästen; das Nachtleben sei „das beste, würde ich sagen, in Europa“, betont Tereshchuk: „Wir hatten bessere Partys als auf Ibiza.“ Doch jetzt bleiben Tourist:innen angesichts der drohenden Bombardierung fern – die fast sechs Monate andauernde Ausgangssperre bringt selbst für Einheimische das Nachtleben zum Erliegen.
Kombiniert mit dem eingeschränkten Betrieb am Schwarzmeerhafen seien nur etwa 20 Prozent des regulären Geschäfts möglich, was auch zu massiven Mietpreisrückgängen führe und die Abwärtsspirale verstärke. „Ich glaube, das ist erst die Anfangsphase“, fügt Tereschtschuk hinzu. Bis zu einem Drittel der lokalen Bevölkerung habe ihre Arbeit verloren und lebe derzeit von privaten Ersparnissen. Sie werden irgendwann auf staatliche Unterstützung angewiesen sein.
Mit der Wirtschaft Odesas kurz vor dem Zusammenbruch, weiß der Kommunalpolitiker, dass auch der auf Steuereinnahmen basierende Haushalt der Stadt schrumpfen wird. Da die Stadt – wie anderswo – unter Militärverwaltung steht, sind aktuell nur Reparaturen und unvermeidbare Ausgaben erlaubt; investiert wird nicht. Tereschtschuk, der vor der Invasion eine Reform vorangetrieben hat, um die Sandstrände zu erhalten und die Stadt erst hinter den Küsten zu entwickeln, fasst zusammen:
„In der Ukraine haben wir einen großen Budgetmangel. Die Ausgaben hängen stark von der Unterstützung unserer westlichen Partner ab.“
Auf seinen Beobachtungen basierend, geht Wadim Tereschtschuk davon aus, dass die Partner der Ukraine einen langfristigen Konflikt im Land anstreben: „Ich denke, die Strategie der führenden Nationen besteht darin, Russland zu schwächen.“ Zeil sie, das Land durch den Verschleiß an Truppen, Kriegsgerät und den hohen Ausgaben dafür langfristig zu schwächen. Diese Einschätzung deckt sich durchaus mit offiziellenAussagen etwa von US-Beamt:innen. Da „die Ukrainer:innen die Kosten mit ihrem Leben bezahlen“, ist Tereschtschuk sauer, wenn er liest, wie Washington Kriegsschife vor Taiwan stationiert, um die Bevölkerung vor der Gefahr einer chinesischen Invasion zu schützen. „Warum haben wir sie nicht am 20. Februar gesehen?“, fragt er und bezieht sich dabei auf mehrfache Besuche durch Besatzungen von NATO-Mitgliedern in Odesa.
BREAKING: ?? @USNavy #USSRoss arrives in #Odesa #UKR to take part in #ExerciseSeaBreeze! This is the 21st iteration of the exercise where +30 countries will join together for interoperability training in the #BlackSea! #SB21 #SeaBreeze pic.twitter.com/CsbUQ9sWCs
— Exercise Sea Breeze (@ExSeaBreeze) June 27, 2021
Mit der Ankündigung, in keiner Weise in den Krieg einzugreifen, hätten die ukrainischen Partner:innen Russland geradezu ermutigt, in das Land einzumarschieren. „Wenn die Ukraine besetzt wird, ist das eine Frage einer historisch gesehen sehr kurzen Zeit, bis man selbst kämpfen muss, bis wieder deutsche Soldaten sterben werden“, ist er überzeugt und bringt sein Unverständnis über die zögerliche Unterstützung der Ukraine zum Ausdruck; und verweist hier nicht ausschließlich auf Deutschland. Wieso kämen etwa nur zehn HIMARS-Mehrfachraketenwerfer aus den USA statt 50, was einen echten Unterschied machen würde, fragt er.
Mit der Nichtreaktion auf die Annexion der Krim, des Donbass und des Versuchs Russlands, das ganze Land zu übernehmen – während manche die Ukraine noch dazu zu drängen, ihr Territorium für einen möglichen Waffenstillstand aufzugeben – habe die internationale Gemeinschaft einen gefährlichen Präzedenzfall geschaffen. „Bis zu welchem Punkt sollten wir jetzt Grenzen neu ziehen? Wenn wir diese Büchse der Pandora öffnen, werden wir sie nicht mehr geschlossen bekommen“, sagt er. So oder so werde am Ende China profitieren. Entweder könne es auf einen erstarkten Verbündeten setzen oder billigere Rohstoffe von einem geschwächten Russland einkaufen, beendet der Lokalpolitiker Tereschtschuk seine geopolitische Einschätzung.
Während das Land ums Überleben kämpft, haben lokale Politiker:innen – auch von Oppositionsparteien wie Tereschtschuk – zugestimmt, die zentralisierte Macht der Regierung oder der Militärverwaltungen nicht zu kritisieren und ihren begrenzten Einfluss auf politische Prozesse zu akzeptieren; obwohl Themen wie die Umbenennung von Straßen noch entschieden werden können. „Natürlich haben wir viele Fragen. Wie das Geld ausgegeben wurde, wie die Politik ist“, erklärt er. Aber das seien Lehren, die nach dem Krieg aufgearbeitet werden müssten. Im Moment seien die Sorgen der Ukrainer nicht, ob sie im Winter die Gasrechnung bezahlen könnten – sondern ob sie morgen ein Zuhause hätten.
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Allerdings sieht er die Gefahr, dass das Land nach Kriegsende womöglich erst langsam zu demokratischen Verfahren zurückkehrt. „Aber wir haben eine Geschichte und Tradition, dass wir unsere Regierungen stürzen können“, erinnert er an frühere Revolutionen. Die Menschen würden sich jeder autokratischen Regierung in Friedenszeiten widersetzen. Dennoch würde er es vorziehen, es nicht noch einmal soweit komme.
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