Majaky ist eine kleine Stadt, weit entfernt von der Front in der Ukraine und nahe der Grenze zu Moldawien. Als eine Rakete einschlug, gehörte Sergey Stepevoy zu den am stärksten Betroffenen.
Das erste, woran sich Sergey Stepevoy erinnert, ist, wie seine Hand blutete. „Ich habe die Explosion nicht gehört“, erinnert er sich an die Nacht, in eine Rakete – laut ukrainischen Informationen eine von einem Tupolew-Tu-22M-Bomber abgeworfene Raduga Ch-22 – nur wenige Meter neben seinem Haus in Majaky einschlug. Nachbarn, die mehrere hundert Meter entfernt wohnten, hörten den Knall.1Beim Erleben einer traumatischen Situation kann es vorkommen, dass sich Betroffene nicht an den Schockmoment selbst erinnern. Das wird als dissoziative Amnesie bezeichnet.
Für das Gespräch einige Wochen nach dem Vorfall nimmt sich Stepevoy eine kurze Pause unter den Weinreben, die sich um das Metallgerüst schlängeln, das als Eingang zu seinem zerstörten Haus dient und etwas Schatten vor der Sommerhitze spendet. Die Reparaturarbeiten an seinem Haus dauern noch an, da das gesamte Obergeschoss durch die Explosion beschädigt wurde. „Wir müssen vor dem Winter fertig sein, damit wir nicht frieren“, kommentiert der 40-Jährige: „Wir haben keine andere Wahl.”
Obwohl der Schaden enorm ist, hatten Stepevoy, seine Frau und die fünf Kinder Glück, den Einschlag überlebt zu haben. Nach dem Treffer habe er mit blutender Hand nach ihnen gesucht und seine Frau in den Trümmern unter der Decke gefunden, bevor die Familie nach draußen rannte. „Die Flammen schlugen 20 Meter hoch“, erinnert sich der Vater und zeigt auf den abgebrannten Boden neben sich: „Hier war noch ein Haus.“ Es sei das seiner Eltern gewesen, in dem er aufgewachsen sei. Gleich nebenan habe er vor sieben Jahren sein neues Zuhause gebaut. Es ist das erste, das auf dieser Straßenseite stehen geblieben ist. Nach ukrainischen Angaben wurden fast 70 Häuser beschädigt.
Zuerst habe er gar nicht verstanden, was passiert ist. „Wir waren alle müde“, verweist er auf die Uhrzeit von etwa 1 Uhr morgens und den Schock angesichts der lodernden Flammen. Einheiten der Territorialverteidigung seien wenige Minuten später eingetroffen, nach ihnen die Feuerwehrleute, erinnert sich Stepevoy. Sie evakuierten die Kinder, löschten das Feuer. „Gott sei Dank leben alle“, fügt er hinzu.
Obwohl er inzwischen weiß, was geschehen is – verstehen könne er es immer noch nicht. Majaky liegt 45 Kilometer südwestlich von Odessa, es ist die letzte Siedlung östlich des Flusses Dnister vor der Grenze zu Moldawien. Die Frontlinie zwischen Mykolajiw und Cherson ist mehr als 250 Kilometer weit entfernt. „Es war das erste Mal hier“, antwortet Stepevoy auf die Frage nach dem Einschlag. Eine Narbe an seiner Hand erinnert ihn noch heute an den Vorfall. Seine Augen richten sich in Richtung des Hauses. Nicht auf das Objekt selbst, eher als würden sie den Himmel dahinter suchen:
Ich hoffe wirklich, dass es das letzte Mal war. Wir konnten es nicht kommen sehen. Ich hätte nie gedacht, dass mir das passieren würde. Und ich stelle mir immer noch die Frage: Warum ich? Ich schätze, so läuft es eben…
Bis zu diesem Moment war der Krieg nur durch Militär-Kontrollpunkte und einige Soldat:innen in der Stadt präsent. Doch nur einen Tag vor dem Interview hätten sie eine weitere Explosion in der Nähe gehört, sagt Stepevoy in Sorge um die Fortschritte, die er bereits bei der Renovierung des Hauses erreicht hat. Es war die erste Nacht, die sie zu Hause verbracht haben. „Wir wollen nur weiterleben und vor nichts Angst haben“, sagt er frustriert. Jetzt muss er sich auch noch um Lecks in der Decke kümmern, die ein heftiger Sommerregen offenbart hat.
Aber selbst wenn das Haus wieder aufgebaut und die zerstörten Möbel ersetzt sind, werden die Sorgen bleiben. Die neun Gewächshäuser von Stepevoy sind zerstört. Der Verkauf von Tomaten und Gurken war das Haupteinkommen der Familie. „Das Saatgut und das Material waren drinnen“, listet er die Schäden auf. Außerdem wurde das für den Wiederaufbau der Gewächshäuser benötigte Metall in dem vom Krieg zerrissenen Land zu einem teuren Gut. Doch spätestens im Januar, wenn die Radieschensaison beginnt, sollte er wieder arbeiten können. „Ich weiß nicht, wann oder wie ich das machen werde“, zuckt er mit den Schultern und lächelt verzweifelt. Und selbst dann hat er kein Auto mehr – er hat es verkauft, um das Material für die Reparatur des Hauses zu kaufen . Die Hilfe der Stadt-Verwaltung habe dafür nicht gereicht, sagt Stepevoy. Von der Regierung habe er bis August kein Geld gesehen.
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Das sei viel Stress, gibt der 40-Jährige zu. Wenn er aus den Fenstern seines Hauses blickt, sieht er immer noch die Zerstörung ringsum; nur die neue Gasleitung erstrahlt in neuem Gelb. „Aber ich versuche, damit klarzukommen. Du kannst dich nicht immer den großen Emotionen hingeben, das zerstört dich“, sagt er. Er hofft daher, dass auch die Nachbar:innen ihre Häuser wieder aufbauen können und der Stadtteil irgendwann wieder zum normalen Leben zurückkehrt. „Ich wünsche niemandem, so etwas zu erleben, einen Raketensplitter in der Länge einer Krawatte im Kinderbett steckend zu finden“, beendet er das Interview.
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