Deutschland hat einen Genozid anerkannt. Wie wichtig es ist, diesen Begriff nutzen zu dürfen, wird aktuell im Gaza-Kontext deutlich. Doch welche Auswirkungen hat eine solche Anerkennung auf die betroffenen Menschen?
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Zumindest ein Massaker an den Jesid:innen hat Deutschland anerkannt. Am 3. August 2014 überfielen Terroristen des sogenannten “Islamischen Staats” die Sindschar-Region; sie moderten und folterten. Nicht das erste Mal, wie Jesid:innen immer wieder betonen. Doch die anderen Massaker erkennt Deutschland nicht offiziell als Genozid an.
Daher sagt auch Dildar Shingaly (Künstlername) über Deutschlands Schritt: „Er ist gut, aber kam viel zu spät.“ Der 27-Jährige ist selbst Jeside, hat den Völkermord überlebt und als Bewohner des Flüchtlingslagers im nordirakischen Dukok Frauen interviewt, die Opfer der Terroristen des sogenannten „Islamischen Staats“ wurden. Rund 100 Interviews hat er so geführt, diese aber nie veröffentlicht. Sie dienen als Archiv des Grauens.
Sie sind persönlicher als das, was der Bundestag als tragende Fakten für den Genozid anführte, als er diesen im Januar 2023 mit einer breiten Mehrheit anerkannt hat: rund 5000 Tote, rund 7000 Verschleppte und Hunderttausende Vertriebene. Die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Auch hinter dem Begriff „verschleppt“ verbirgt sich mehr als die bloße Freiheitsberaubung. Während die Terroristen Männer, Jungen und ältere Menschen sofort erschossen, suchten sie sich besonders junge Frauen gezielt aus und entführten sie. Opfer berichten davon, dass ihre Entführer besonderes Interesse an jenen zeigten, die noch unverheiratet waren, „unberührt“. Sie berichten von Fotos, die von ihnen gemacht wurden, einer Art Frauenschau, von sexuellen Übergriffen, Vergewaltigungen – mehrfach. Tage-, wochen- und montelang wurden sie in fensterlosen Räumen festgehalten, bis sie das Gefühl für die Zeit völlig verloren hatten.
All das hat Shingaly in seinen Interviews auf Arabisch dokumentiert. Nachzulesen sind vergleichbare Geschichten in deutscher Sprache unter anderem hier: Vergewaltigt vom “Islamischen Staat”: “Ab halb zehn kamen die Männer” – DER SPIEGEL, hier: Völkermord: Viele Jesidinnen sind traumatisiert | ZEIT ONLINE und hier: Urteil zu verdursteter Jesidin: Lebenslange Haft für IS-Anhänger – taz.de
Jesid:innen (auch: Ezid:innen bzw. Êzîd:innen) sind eine ethno-religiöse Grupperierung mit rund einer Million Angehöriger weltweit. Ursprünglich stammen sie aus Mesopotamien (heutiger Irak, Nordsyrien, Teile der Türkei), viele von ihnen mussten allerdings flüchten. Ihre monotheistische Religion ist eine der ältesten Religionen der Welt, die noch praktiziert wird, in Armenien und von den Vereinten Nationen sind die Jesid:innen als ethnische Minderheit anerkannt, in Deutschland gelten sie hingegen als religiöse Minderheit. Auch unter Jesid:innen gibt es diese Streitfrage; manche sehen sich selbst als ethnische Kurd:innen. In Deutschland lebt mit geschätzten etwa 300.000 Angehörigen die größte jesidische Diaspora. Rund 80% ihrer Vereine (Selbstangabe des Verbands) organisieren sich im Zentralrat der Verbandsgeschichte – Zentralrat der Êzîden als ihren Dachverband, der sich 2017 gegründet hat.
Am zehnten Jahrestag des Genozids schaute Dildar Shingaly darauf, was sich durch die Anerkennung des Völkermords verändert hat und zieht ein überraschendes Fazit. Denn die Anerkennung habe nicht dazu geführt, dass jesidische Menschen mehr Schutz genießen. Zumindest in Deutschland, das immerhin den Genozid benennt, habe sich die Lage ins Gegenteil verkehrt.
„Als ich nach Deutschland gekommen bin, habe ich gesagt: ‚Ich bin Jeside.‘ Sie wussten schon, was das heißt. Ich musste nicht viel erzählen“, erinnert sich Shingaly. 2015 und 2016 sei das einfach gewesen, die Problematik bekannt, die Anerkennungsquote im Asylverfahren für jesidische Menschen hoch. „Heute muss man viel erzählen, wie man persönlich verfolgt wird“, weiß er und doch erhielten die Menschen dann oft keinen Schutzstatus. Es gebe die Idee, dass der Genozid jetzt ja „vorbei“ sei, Teile von Syrien und der Irak sicher seien, um dahin zurückzukehren: „Wenn nicht in die kurdischen Gebiete, dann eben zu den Schiiten oder Sunniten.“
Dabei zeigen Berichte, dass die Verfolgung der Jesid:innen eben nicht vorbei ist. Bis heute sind einige der Verschleppten nicht zurück bei ihren Familien. Es ist unklar, ob die Betroffenen überhaupt noch leben.
Baden-Württemberg hatte deshalb eigentlich auch ein weiteres Schutzkontigent für Jesid:innen angekündigt. Das Bundesland nahm eine Vorreiterrolle mit dem ersten Landesaufnahmeprogramm für Jesidinnen ein, rund neun Jahre ist das jetzt her; seit 2015 kamen rund 1000 Frauen teilweise mit ihren Kindern nach Süddeutschland. Weitere Kontingente anderer Bundesländer folgten. Doch bislang hat die Ankündigung, die sogar im schwarz-grünen Koalitionsvertrag festgeschrieben ist, keine konkreten Folgen gehabt, wie unter anderem die Kontext-Wochenzeitung berichtet. Auch für den Familiennachzug von Ehemännern zu vereinzelten der 1000 Frauen des ersten Kontingents gibt es bis heute keine Lösung. Um 18 Männer geht es dabei insgesamt, für die in bald zehn Jahren kein Sonderweg gefunden wurde. „Das ist einfach lächerlich“, kommentiert Shingaly und schildert, dass Vian (sie hatten Lena und er vor sechs Jahren gemeinsam besucht und interviewt) sich inzwischen von ihrem zurückgelassenen Mann trennen musste. Zu aussichtslos war die Chance, irgendwann ein gemeinsames Leben führen zu können.
In Baden-Württemberg wurde zum zehnten Jahrestag ein Denkmal eingeweiht; es soll an die Opfer und die sexuellen Übergriffe erinnern. Eine Lösung fürs das Zusatzkontingent oder die Ehemänner hatte Ministerpräsident Winfried Kretschmann allerdings auch zum traurigen Jubiläum nicht parat, wie der SWR dokumentiert.
Gebracht hat die Anerkennung des Genozids trotzdem etwas, wenn auch nicht politisch, findet Shingaly. Die Deutschen, die Gesellschaft, die wisse jetzt Bescheid. Es gebe ein Bewusstsein für den Völkermord: „Nicht nur Journalist:innen wissen davon, auch die Menschen auf der Straße.“ Da bestehe Interesse und Unterstützung.
Gemeinsam mit anderen Jesid:innen setze er sich dafür ein, dass weitere Länder mit der Anerkennung folgten, unter anderem Österreich und die Schweiz. Einfach sei dieser Weg nicht. Auch in Deutschland habe sich gezeigt, wie kompliziert es sei, obwohl die Fakten bekannt seien, wie er sagt. Allein durch die Landesaufnahmeprogramme habe es doch Zeuginnen und Beweise genug geben müssen.
Und noch eine Herausforderung sieht Shingaly aktuell: „Die AfD will uns benutzen, als Argument gegen den Islam. Dagegen müssen wir uns wehren. Leider verstehen manche nicht, was die Partei eigentlich will.“
Das komplette Gespräch zum Thema hat Shingaly auf seinem YouTube-Kanal veröffentlicht:
Beitrag veröffentlicht am August 3, 2024
Zuletzt bearbeitet am August 3, 2024
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.