Tschermalyk/Mariupol. Für sie gibt es kein Entkommen. Die rund 2000 Einwohner*innen von Tschermalyk nahe Mariupol sind Schüsse mittlerweile gewöhnt. Bevor der Krieg ausbrach, war die Gegend beliebt zur Naherholung. An Entspannung ist hier jedoch nicht mehr zu denken. Seit im April 2014 Separatisten die Volksrepublik Donezk ausgerufen haben, bildet der Fluss Kalmius, zu dessen linker Seite Tschermalyk liegt, die international nicht anerkannte Grenze. Genau hier verläuft seit dem Minsk-II-Abkommen die fast 500 Kilometer[1] lange Kontaktlinie, wie die Front offiziell genannt wird.
Eigentlich gilt mit dem Abkommen eine Waffenruhe, die ihren Namen derzeit kaum verdient. Die Beobachtungsmission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit (OSZE) dokumentiert penibel, was vor Ort passiert: Mal zählt sie 100, mal 250 Verletzungen dieser Waffenruhe in der Region um Donezk — pro Tag[2]. Einen nicht unerheblichen Teil davon um Tschermalyk. Geschossen wird von beiden Seiten.
Tagsüber, wenn weniger Schüsse fallen, wagen sich die Bewohner aus ihren Häusern. Kinder spielen unter Aufsicht ihrer Eltern auf den Straßen, im Mini-Markt besorgen sie Lebensmittel. Das Leben wirkt fast normal.
„Du solltest mal abends herkommen, dann würdest du die ganzen Schießereien sehen“, sagt Valeria Zhukova.
Die 20-Jährige und Freundin Tanja Kaystra, 18 Jahre alt, beide junge Mütter, sind nach eigenen Angaben gebürtig aus Tschermalyk. „Wenn geschossen wird, bleiben wir in unseren Häusern“, erzählen sie. Das sei schon eine Verbesserung — als die Kämpfe begannen, hätten sie sich in ihren Kellern versteckt. Als der Ort noch unter Artilleriefeuer stand. In die umliegenden Felder können sie noch immer nicht — hier liegen nach wie vor Minen, die erst noch beseitigt werden müssen[3].
Man kann als eine der Errungenschaften des Minsker Abkommens bezeichnen, dass immerhin diese schwere Artillerie weitgehend abgezogen wurde; auf beiden Seiten je 15 Kilometer von der Kontaktlinie entfernt[4]. Ein Bauernhof am Rande Tschermalyks zeugt noch davon, wie der Ort von den Kampfhandlungen zerrüttet wurde — von dem Bauernhof stehen nur noch die Grundmauern. Schäden sind auch an zahlreichen Häusern zu sehen, ebenso wie die andauernden Reparaturarbeiten. Nennenswerte Raumgewinne verzeichnen weder die ukrainischen Truppen noch die der selbsternannten Volksrepubliken seit der Waffenruhe.
Diese schlimmen Zeiten mögen vorbei sein, doch sicher sind die Einwohner*innen des Ortes damit nicht. Erst Ende Juni berichtete die OSZE-Beobachtermission von einer Frau, die ins Krankenhaus gebracht wurde. Laut OSZE stand sie nur nahe ihre Eingangstür, “als sie ein lautes Geräusch hörte und unmittelbar Schmerz fühlte und Blut aus ihrem linken Schlüsselbein herunterfließen sah” [5]. Auf Nachfrage nannte eine OSZE-Sprecherin 758 bestätigte zivile Opfer auf beiden Seiten der Kontaktlinie seit Januar 2017, 136 starben, 622 wurden verletzt.
Bewegungsfreiheit haben die Einwohner*innen von Tschermalyk wegen solcher Vorfalle nur bedingt, manche Straßen und das gesamte Flussgebiet meiden sie aus Angst vor Beschuss. „Früher haben wir Wasser aus einem Brunnen geholt. Aber jetzt wird der Bereich permanent beschossen, deswegen müssen wir Wasser kaufen“, sagt Tanja Kaystra. Von Hilfsorganisationen erhielten sie in den vergangenen Jahren immer wieder Unterstützung in Form, Kleidung, (Baby-)Nahrung oder auch Tieren.
Vyacheslav und Julia, die ihre Nachnamen nicht nennen wollen, sind ebenfalls mit ihren zwei Kindern in Tschermalyk geblieben. Sie hätten sich an die Situation gewöhnt, doch das Unbehagen schwingt immer mit. Vyacheslav will noch nicht einmal mit dem Finger auf die Orte zeigen, von wo die Schüsse zu hören sind. „Ich habe Angst, hier mit meinen Kindern zu sein. Aber ich habe keine andere Option“, sagt er. Arbeit habe er in der Stadt, doch kein Geld für eine neue Wohnung. Zweimal täglich fahre der Bus in die Stadt. Von Mariupol aus sind auch immer wieder Tramper*innen zu sehen, die in die „Grauzone“ müssen, wie die Orte innerhalb der Pufferzone auch genannt werden.
Ortswechsel in die Großstadt: Knapp 50 Kilometer südlich von Tschermalyk, in Mariupol, ist von diesem Stellungskrieg kaum noch etwas spüren. Zwar ist die Großstadt auf allen Zufahrtsstraßen mit Checkpoints des Militärs abgesichert und im Stadtgebiet sowie in den Bussen sind immer wieder Soldaten zu sehen. Doch im Stadtzentrum pulsiert das Leben genauso wie in Kiew oder in Berlin. Auf die einstigen Unruhen in der Stadt weist etwa das ausgebrannte, ehemalige Rathaus hin. „Mariupol ist Ukraine!“, prangt es auf einem inzwischen leicht zerfledderten Banner auf Kyrillisch und Englisch in lateinischen Lettern. Die Parkanlage davor ist sauber und gepflegt, Familien spazieren auf den Wegen entlang, auf den Bänken nehmen Senior*innen platz und genießen die Mittagssonne, Jugendliche schießen Selfies.
„Ich liebe die Stadt und fühle mich super hier. Man kann hier Ideen umsetzen“, sagt die 21-jährige Irina Kondratenko. Sie studiert Politologie und ist Administratorin im 2016 gegründeten kreativen Workspace Halabuda[6]. Das Projekt wurde als Freiwilligenzentrum gestartet, nun bietet es verschiedene Kurse, Aktivitäten und Bildungsprogramme an. Das Angebot richtet sich ausdrücklich auch an Binnenflüchtlinge, Soldat*innen oder einkommensschwache Familien. Seit den Unruhen 2014 sei die Stadt viel aktiver, sie entwickele sich trotz der wirtschaftlichen Probleme, findet sie.
Ob ihr der Krieg keine 20 Kilometer von der Stadtgrenze keine Angst macht?
„Früher hatte ganz Mariupol Angst, jetzt ignorieren wir das“, entgegnet sie.
Ihr gefalle die Stadt jetzt sogar besser. Einige ihrer Freunde seien zwar nach Kiew gezogen, allerdings wegen der beruflichen Aussichten und nicht wegen der Kampfhandlungen nebenan. Sie selbst sehe in Mariupol Möglichkeiten, sich zu entwickeln und ein gutes Leben zu führen.
Einen normalen Alltag hat auch die Universität in Mariupol wiedergefunden. Etwa 20 Student*innen aus der selbsternannten Volksrepublik Donezk sowie etwa 100 aus der Grauzone studieren laut Professor Alexander Cheiliakh, Vizerektor für Wissenschaft und Pädagogik an der Universität Mariupol, neben 6000 anderen Menschen an der Universität und seien in Wohnheimen untergebracht. Diese Zahlen seien seit Jahren stabil. „Wir haben ein normales Unileben hier und nicht mit dem Alltag aufgehört“, sagt er.
Es gebe zahlreiche Konferenzen, Kulturbegegnungen und Veranstaltungen. Zu Sportveranstaltungen kämen durch eine Kooperation auch zahlreiche Soldaten. „Für uns ist es normal zu verstehen, dass die Gefahr nahe ist, und im Alltag normal zu leben. Auch wenn es nicht normal ist, täglich Krieg nebenan zu haben.“ Rund 150 Freiwillige unter den Student*innen würden jedes Jahr Spenden sammeln, Blut für die Soldaten oder Medizin zur Versorgung der Soldaten in den Krankenhäusern spenden. „Wir wollen in Mariupol leben, in Frieden“, betont er.
Das würden auch die jungen Mütter Valeria Zhukova und Tanja Kaystra aus Tschermalyk gerne, die wie Zehntausende Menschen in der Pufferzone und direkt an der Front leben. Im Mai 2018 sprach das UN-Flüchtlingshilfswerk von schätzungsweise mehr als 55.000 Kindern nur auf von der Regierung kontrolliertem Territorium innerhalb der 15-Kilometer-Pufferzone „Wenn unsere Kinder wach sind und die Schüsse hören, haben sie Angst und weinen“, sagt Zhukova. Die beiden setzen auf den neuen Präsidenten, Wolodymyr Selenskyj:
„Wir hoffen, dass der Krieg bald zu Ende sein wird. Wir hoffen, dass der neue Präsident ihn beendet.“
Mitarbeit: Sergey Panashchuk
[1] https://www.unicef.org/ukraine/2018_Assessment_Update-web(1).pdf
[2] https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/418901
[3] https://www.boell.de/en/2018/07/17/landmines-donbass-conflict-zone-threats-population-and-necessity-mine-clearance
[4] https://www.dw.com/en/kyiv-and-rebels-agree-buffer-zone-in-ukraine-peace-talks/a-17936223
[5] https://www.osce.org/special-monitoring-mission-to-ukraine/418448
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