In der DDR hat Thomas mit der Stasi zusammengearbeitet. Mit dem Machtstreben der AfD fürchtet er nun den Rückfall in alte Zeiten.
Thomas 1Name geändert war Täter. So steht es in seiner Akte; Schwarz auf Weiß. Aufgewachsen und sozialisiert in der DDR unterstützte und schützte er einen Unrechtsstaat: Für den Grundwehrdienst rekrutierte den damals 18-Jährigen das Ministerium für Staatssicherheit (MfS, auch Stasi). Statt in der Nationalen Volksarmee diente er in einem Berliner Elite-Wachregiment.
Als dem Staat wohlgesonnener Bürger kehrte Thomas anschließend in seine Heimat zurück. In einem Volkseigenen Betrieb arbeitete er als Handwerker. Wenn Stasi-Mitarbeiter:innen vorbeikamen und Fragen zum Personal stellten, gab er bereitwillig Auskunft. „Das war zwanglos“, erinnert er sich. Als Kollaborateur sei er allerdings nicht als einer der 600.000 Inoffiziellen Mitarbeiter:innen (IM, auch bekannt als Stasi-Spitzel) geführt worden.
Im Glauben, den Staat zu schützen, gab Thomas auch sensible Informationen über seine Mitmenschen an die Obrigkeiten weiter. Dem „gefestigten Sozialisten“ boten sich dafür einfachere Aufstiegs- und Entwicklungschancen. Wer sich mit dem System arrangierte, konnte ein durchaus passables Leben führen. Doch half Thomas damit einem Unrechtsstaat, sein Volk zu unterdrücken, wie er heute weiß. Er räumt ein:
Ich habe die Tragweite überhaupt nicht erkannt.
Nachfragen seien damals nicht erwünscht gewesen. Umso weniger kritische. „Was da vor sich geht, das hat nicht zu interessieren“, so die Devise. Als Bürger:in eines sozialistischen Staates müsse der Weltfrieden gesichert und die Arbeiter:innenklasse gestärkt werde, rekapituliert er die Denke. In dieser Doktrin sei jedes Zweifeln am Staatshandeln mit Verrat und einem Verfall in den Kapitalismus gleichgesetzt gewesen. Also stellte Thomas keine Fragen; auch aus Selbstschutz, wie er sagt.
An diese Zeiten fühlt er sich erinnert, wenn er nun liest, was in Russland vor sich geht – und er fürchtet, dass auch die AfD mit ihren teils totalitären Ansprüchen wieder ein ähnlich repressives System in Deutschland einführen würde, sollte sie nach ihrem aktuellen Umfragehoch und den ersten Wahlerfolgen in politische Verantwortung kommen.
Parallelen zieht Thomas auch zur Nachwendezeit, als einstige Verantwortungsträger:innen bedroht und tyrannisiert worden seien. Solche Tendenzen mit Drohungen gegen Kommunalpolitiker:innen und anderen Personen des öffentlichen häufen sich und haben unter anderem zum Mord an Walter Lübcke geführt.
Thomas lebt noch immer in Ostdeutschland. Mangels beruflicher Perspektiven aufgrund seiner Stasi-Vergangenheit hat er sich im Handwerk selbstständig gemacht und ein neues Leben aufgebaut. Die Trauer über den Verlust der Heimat hat er mit den Jahren überwunden und das Leben in einer Demokratie zu schätzen gelernt. Doch wenn er sieht, wie sich verfassungsfeindliche Tendenzen in der Gesellschaft festigen und eine in Teilen rechtsextreme, vom Verfassungsschutz beobachtete Partei legitimiert wird, legen sich die Sorgenfalten auf seine Stirn. Aus diesem Grund will er nur anonym über seine Vergangenheit und Ansichten sprechen:
Das ist dieses Klima, das mittlerweile entstanden ist, bei dem ich sage: Pass auf, das ist ganz gefährlich. Pass genau auf, was du sagst und wem du es sagst.
Das brandgefährliche sei die schleichende Selbstverständlichkeit, mit der verfassungsfeindliche Tendenzen Einzug in die Gesellschaft hielten. Hier ein Wehrmachts-T-Shirt, da ein nationalsozialistisches Tattoo und dann der Hass auf Ausländer:innen und Politik bei gleichzeitiger Verherrlichung diktatorischer Regime wie in Russland.
Ganz klar: Nicht alle in Ostdeutschland ticken so, Thomas ist das beste Beispiel dafür. Doch zumindest bei Wahlen und Umfragen schmilzt ihre Mehrheit. „Das ist dieses Gift, das in der Gesellschaft verbreitet wird“, sagt er.
Für Thomas war es nach der Wiedervereinigung ein Prozess, die eigene Rolle im Unrechtsstaat zu erkennen. „Das, wofür ich mit Herz und Seele eingestanden bin, war an sich falsch“, weiß er heute. Besuche etwa der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, einer früheren Untersuchungshaftanstalt der Stasi und Folterkammer für politisch Gefangene, und Gespräche mit Zeitzeugen wie einer Frau, die beim Fluchtversuch aus der DDR auf eine Mine trat und ihr Bein verlor, hätten ihm nach und nach die Augen geöffnet.
Gleichzeitig sah er den wirtschaftlichen Verfall seiner Region: Westliche Unternehmer seien „wie Raubritter“ durch die neuen Bundesländer gezogen, unterstützt von der Treuhand. Fachkräfte seien nach den neuen marktwirtschaftlichen Aspekten massenhaft entlassen worden. Wer eine Perspektive suchte oder gebildet war, sei wiederum in den Westen gegangen: „Die Leistungsträger der Gesellschaft – Leute, die wirklich etwas bewegen wollten – haben der Region den Rücken gekehrt und kommen nicht mehr zurück.“
Wer wie Thomas als Unterstützer:in des abgeschafften Systems galt, und sei es als kompetente Verwaltungsfachkraft, sei gebrandmarkt gewesen. Stattdessen hätten die Westparteien mit neuen Mitgliedern die Posten in den Rathäusern besetzt, bemängelt Thomas strukturelle Probleme beim Neustart, die das Vertrauen in die neuen, demokratischen Institutionen geschwächt hätten. Das wirke bis heute nach.
Geblieben seien in vielen Regionen die „alte Denke“ und der Frust um das Verlorene, die nun den Nährboden für Parteien wie die AfD bereiteten. Immer wieder suche sie die Nischen wie zuletzt mit dem Heizungsgesetz und der Sorge vieler Menschen, die Umrüstung zu finanzieren. Auch Aspekte wie die minimale Anhebung des Mindestlohns wirkten in den ohnehin benachteiligten und strukturschwächeren ostdeutschen Bundesländern umso schwerer.
Dass nun selbst die CDU in Teilen eine Zusammenarbeit diskutiert, bedeutet für Thomas den nächsten Dammbruch. „Es ist irgendwo ein Knistern und es braucht ein Ventil, dass irgendwas passiert“, mahnt er vor einer aufgewühlten Bevölkerung: „Das ist alles nicht gut.“ Nicht zuletzt der Brexit zeige, dass Gesellschaften in emotionalen Situationen unumkehrbare Entscheidungen treffen könnten, die später bedauert würden.
In den meisten Parteien darf sich Thomas aufgrund seines Tätervermerks nicht mehr engagieren. Auch Staatsposten darf er nicht bekleiden, ebenso wenig sich als Schöffe engagieren. Dennoch bedeutet Demokratie für ihn das hohe Gut, die eigene Meinung ohne Angst vor Repressalien zu äußern und andere Meinungen zuzulassen. Trotz aller Sorgen hoffe er, dass das so bleibt. Er hat aus der Geschichte, die auch seine eigene ist, gelernt.
Beitrag veröffentlicht am August 22, 2023
Zuletzt bearbeitet am August 22, 2023
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