EU-Staaten haben seit 2022 mehr als 3000 ukrainische Patient:innen behandelt. Allein Deutschland hat über einen internationalen Mechanismus mehr als 1000 Menschen aufgenommen. Dabei bewährt sich mit dem Kleeblatt-Konzept ein Überbleibsel aus der Pandemie.
Die Szenen bleiben selbst erfahrenen Helfer:innen im Kopf. „Es gibt mehrere Missionen, die besonders in Erinnerung sind. Das sind Missionen, bei denen wir Patienten mit schwersten Verbrennungen eingeflogen haben, die eine sehr geringe bis keine Überlebenschance hatten“, sagt Stefan Jucken. Der Kölner Berufsfeuerwehrmann ist die Kontaktperson für Nordrhein-Westfalen für das Kleeblattkonzept, bei dem verletzte Ukrainer:innen zur Behandlung nach Deutschland gebracht werden.
Von der Ukraine in EU-Krankenhäuser
Mit dem russischen Großangriff auf die Ukraine haben deren Verbündete in der EU neben der militärischen auch die humanitäre Hilfe stark ausgebaut: Um das ukrainische Gesundheitssystem zu entlasten, nutzen hiesige Krankenhäuser freie Kapazitäten und behandeln Patienten aus dem angegriffenen Land. Das können neben Kriegsverletzungen nach Bombardierungen, Minenexplosionen oder Gefechten auch Krankheiten sein. „Da sind auch Kleinstkinder dabei, die eine schwere Erkrankung haben, die in der Ukraine aufgrund der Kriegshandlung nicht mehr behandelt werden können“, schildert Jucken.
Bis Mitte März 2024 haben durch das Kleeblatt-Konzept mehr als 1000 Ukrainer:innen in Deutschland eine medizinische Versorgung erfahren. Darunter waren fast 2000 Militärangehörige. Zu diesem Anlass lädt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) in den militärischen Bereich des Kölner Flughafens ein, dem Ankunftsort der norwegischen Rettungsflugzeuge. EU-weit erfolgten bislang mehr als 3000 Aufnahmen.
Vorführung auf dem Flughafen
Schüler:innen der Rettungsdienstschule Köln zeigen den Ablauf beim Umladen der Patient:innen. Im Flugzeug werden liegenden Patient:innen zunächst auf eine mobile Trage umgelagert. Bis zu 18 Menschen finden liegend in dem Flugzeug Platz, davon können drei mit einer intensivmedizinischen Versorgung betreut werden. Ein Ambulift nimmt sie direkt an der Flugzeugtür entgegen und fährt sie zum Rettungswagen. Von dort geht es direkt in die Zielklinik. Gehfähige Patient:innen werden von Sanitäter:innen über die Zugangstreppe auf das Rollfeld begleitet und vom Rettungsdienst in Empfang genommen. „Bei Patient:innen, die einen hohen medizinischen Versorgungsgrad benötigen, werden wir natürlich auch im Flugzeug entsprechende medizinische Versorgung sicherstellen, bevor wir sie an die Rettungsmittel übergeben“, erläutert Jucken.
Was bei der Vorführung nach einigen routinierten Handgriffen aussieht, ist das Resultat eines komplexen, internationalen Mechanismus – bei dem in Deutschland das Kleeblatt-Konzept zum Einsatz kommt. Wenn die Patient:innen in Deutschland eintreffen, ist bereits alles für ihre Behandlung vorbereitet, in den Kliniken warten Patientenlots:innen. Dr. Michèle Roth-Dührkoop, Leiterin der BBK-Kleeblattzelle, spricht von kurzen Wegen und schnellen Entscheidungen. Zwischen Anfrage und Ausflug der Patient:innen seien fünf Tage realistisch, sagt Kontaktmann Jucken. „Wir haben es innerhalb von einem Tag geschafft, einen Patienten auszufliegen“, sagt er über einen Rekordfall. 40 bis 60 Arbeitsstunden seien im Regelfall notwendig, um eine Transportmission zu organisieren.
Eine vereinfachte Darstellung Evakierungsmechanismus und Kleeblatt-Konzepts
Hier gibt es die interaktive Grafik in voller Auflösung.
Für die Behandlung und Genesung verbringen die ukrainischen Patient:innen teils mehrere Monate in Deutschland. „Es gibt aber tatsächlich auch Patient:innen, die zurück in die Ukraine möchten und liegend transportiert werden müssen“, sagt Michael Sieland vom Generalsekretariat des Deutschen Roten Kreuzes (DRK). Dazu zählten auch Soldat:innen, die zurück zu ihrer Einheit möchten oder Zivilist:innen mit unversorgten Angehörigen zu Hause. In solchen Fällen werde dann eine Übergabe an der ukrainischen Grenze organisiert, da die deutschen Rettungswagen aus Sicherheitsgründen nicht ins Land fahren dürften. Meist lasse sich der Rücktransport innerhalb weniger Tage organisieren. Wie viele der Patient:innen erfolgreich behandelt werden konnten oder verstorben sind, wird nicht dokumentiert.
Für Jucken sind es indes nicht nur die Bilder von Verletzungen, die hängen bleiben. „Ich habe ganz viele Gesichter, ganz viele Leute im Kopf, die sich bedankt haben. Die sich bedankt haben, dass wir ihnen helfen. Ich kann die nicht namentlich zuordnen, aber ich erkenne die Gesichter garantiert.“
Stellungnahmen zum EU-Evakierungsprogramm für Ukrainer:innen
Bundesinnenministerin Nancy Faeser
„Das alles zeigt das entsetzliche Leid dieses von Putin entfesselten und mit unverminderter Brutalität geführten Krieges“, sagt Bundesinnenministerin Nancy Faeser. Die Behandlung von mehr als 1000 Ukrainer:innen in Deutschland sei Zeichen der humanitären Unterstützung und ein Gebot der Menschlichkeit. Selten werde gesehen, dass Deutschland neben der militärischen Unterstützung auch viel humanitäre Hilfe für die Ukraine leiste. Dazu zählen unter anderem rund 500 Hilfstransporte: „Das ist der größte Logistikeinsatz in der Geschichte des THWs.“ Das Kleeblatt-Konzept sei „ein herausragendes Beispiel für europäische Solidarität und Kooperation“. Zudem erneuert sie das Solidaritätsversprechen: „Wir als Bundesrepublik Deutschland, wir als Bundesregierung werden die Ukraine unterstützen und so massiv helfen, wie es nötig ist.“
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach
Von einer beeindruckenden Präsentation am Flughafen spricht Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach. „Ich möchte mich bei allen Beteiligten ganz herzlich für die Übernahme dieser wichtigen Aufgabe bedanken“, sagt er. Sie vollbrächten großartige medizinische Leistungen unter großen Herausforderungen, bei dem der Fachgruppe des Robert-Koch-Instituts (RKI) für die Einschätzung und Verteilung der Patient:innen eine besondere Aufgabe zukomme. Dadurch profitierten die Patient:innen von einer Versorgung nach höchsten Standards. Deutschland sei stolz auf diese Hilfe und werde sie fortsetzen. „Deutschland ist hervorragend aufstellt für diese Aufgabe“, lobt er das Kleeblatt-Konzept. Deshalb werde es auch bei künftigen Sicherheitsgesetzen berücksichtigt. „Auch wir können größere Katastrophen oder Bündnisfälle nicht ausschließen. Wir müssen gut vorbereitet sein“, unterstreicht Lauterbach.
Generaloberstabsarzt Dr. med. Ulrich Baumgärtner
Für die Bundeswehr ist diese Art der Unterstützung bereits vertrautes Terrain, merkt Generaloberstabsarzt Dr. med. Ulrich Baumgärtner an. Der Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr weist darauf hin, dass Sanitätsdienst und Luftwaffe bereits seit 2014 verletzte ukrainische Streitkräfte versorgt haben. „In dieser Zeit bis 2022 haben die Bundeswehrkrankenhäuser über 140 ukrainische Patient:innen versorgt“; sagt er. Als Militärs wüssten sie nur zu gut um die zerstörerische Kraft des Krieges auf Körper und Seele, um die Verletzungsmuster und Behandlungen „Es ist für uns eine innere Verpflichtung, unsere Expertise und unsere Ressourcen zur Verfügung zu stellen.“ Die Kooperation mit Norwegen sei ein Ausdruck des Zusammengehörigkeitsgefühls in Europa und NATO. Zudem bilde der Sanitätsdienst Ukrainer:innen aus und weiter. „Kriegstüchtig sein heißt insofern auch, richtige Medizin für die Akutversorgung und Rehabilitation von Kriegsopfern zu können“, betont er. Gleichzeitig mahne das Leid, wirklichen Frieden herzustellen und zu schützen.
Botschafter Oleksii Makeiev
Hinter jeder dieser Zahlen stehe eine persönliche Geschichte, betont der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev. Von Soldat:innen, die ihre Heimat verteidigten, von Kindern und ihren Krankheiten. Dank des Kleeblatt-Programms würden viele Leben gerettet. „Was wir heute sehen, ist eine gesamteuropäische Meisterleistung“, würdigt er den Mechanismus für Zivilschutz. Er sei ein Zeichen dafür, was ein geeintes Europa stark mache. „Wir Ukrainer:innen übernehmen den Kampf und es ist so toll, diese Unterstützung zu spüren. Dass uns geholfen wird und dass wir in diesem Kampf gegen das Böse nicht allein dastehen.“
Janez Lenarčič, EU-Kommissar für Krisenmanagement und humanitäre Hilfe
Europaweit haben sich in den zwei Jahren 22 Länder an der Versorgung von mehr als 3000 Ukrainer:innen beteiligt. „Und dieser Erfolg verdankt viel dem norwegischen Beitrag“, sagt Janez Lenarčič, EU-Kommissar für Krisenmanagement und humanitäre Hilfe. In der Regel biete das Land zwei medizinische Evakuierungsflüge pro Woche an und habe einen Großteil der Patient:innen in die EU-Länder transportiert. Gleichzeitig habe die EU in der Zivilschutzmission für die Ukraine mehr als 135.000 Tonnen Hilfsgüter in die Ukraine geschickt. Das sei ein kleiner, aber wirkungsvoller Beitrag im Zuge der gesamten Unterstützung im Wert von 85 Milliarden Euro. „Der russische Imperialismus wird nicht aufhören, wenn wir nicht handeln und die Ukraine unterstützen“, betont er.
Ellen Moen Rønning-Arnesen, norwegische Staatssekretärin
Die Staatssekretärin im norwegischen Gesundheitsministerium hebt die „exzellente Kooperation“ mit der Bundesrepublik hervor, die eine Vorreiterrolle bei der medizinischen Evakuierung ukrainischer Patient:innen einnehme. „Diese Medevac-Kooperationen zeigen die europäische Zusammenarbeit und Solidarität von ihrer besten Seite. Zusammen können wir leben retten“, sagt Ellen Moen Rønning-Arnesen. Sie lobt zudem die ukrainische Widerstandsfähigkeit im Kampf für ihr Überleben und ihre Freiheit. „Ihr Kampf ist auch unserer“, sagt sie. Norwegen habe bereits lange Erfahrung mit medizinischen Luftevakuierungen, bei denen mehrere Ministerien zusammenarbeiteten. Täglich tauschten sich die Expert:innen mit ihren deutschen Kolleg:innen aus, stützten sich auf sie und lernten von ihnen: „Das ist eine einzigartige Operation, die auf Vertrauen und Professionalität baut, die die europäische Gesundheitsvorsorge stärkt.“ Die norwegische Regierung habe bereits entschieden, die Mission bis mindestens November 2024 fortzuführen: „Gemeinsam können wir weiterhin Leben retten und gemeinsam können wir uns vereinen und etwas erschaffen, nicht spalten und zerstören.“
Beitrag veröffentlicht am März 24, 2024
Zuletzt bearbeitet am März 24, 2024
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Niklas
Freier Journalist aus Bremen, Volontariat beim WESER-KURIER. Mitgründer von Witness Europe und Report vor Ort.
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