Nach der Lützerath-Räumung: Erfahrungswerte für die Klimaschutzbewegung

Nach der Lützerath-Räumung: Erfahrungswerte für die Klimaschutzbewegung

Den Abriss Lützeraths haben die Aktivisti mit ihrem Protest zwar nicht verhindert. Die Klimaschutzbewegung dürfte dadurch dennoch an Stärke und Intensität gewonnen haben.

Als Dorf ist Lützerath Geschichte. Doch in der Klimabewegung könnte sich daraus auch ein Anfang entwickelt haben. Mit den Erfahrungen, die Aktivisti1So die genderneutrale Selbstbezeichnung. dort gesammelt haben, sehen sie sich in ihren Bestrebungen bestärkt: insbesondere mit Blick auf die Wirkmacht des zivilen Ungehorsams.

Kurzer Rückblick: Nach mehrjähriger Besetzung durch Aktivisti hat die Polizei den Weiler im Januar geräumt. Der Energiekonzern RWE hatte zu diesem Zeitpunkt bereits alle benötigten Grundstücke gekauft oder die Nutzungsrechte dafür erworben und die politische Rückendeckung. Bevor das Unternehmen die Kohleförderung aus dem Tagebau Garzweiler im Jahr 2030 stoppt, baut es ihn aus.

Aktivist spricht über Polizeigewalt

Unter den Protestierenden der Großdemonstration befand sich auch Julius. Er dürfte zu den ersten Verletzten gezählt haben, vermutet er, und sieht sich als Opfer von Polizeigewalt. Das Bündnis „Lützerath Lebt!“ hatte den Beamten im Nachgang massive Vorwürfe gemacht, war jedoch zunächst die Belege schuldig geblieben.

Das RWE-Betriebsgelände war während der Großdemo nur bedingt erkennbar.

Als er mit der Polizei aneinandergeriet, war der Demonstrationszug noch in Bewegung. Angesichts der Menschenmasse hatten sich zahlreiche Teilnehmende abseits der Straße aufgehalten und waren teils auf den umliegenden Feldern unterwegs; einige davon gehören bereits dem Energiekonzern. So auch Julius. „Ich wollte mich nicht ganz vorne beteiligen“, unterstreicht er im Gespräch. Ob er, als er sich in die Menschenkette einhakte, bereits auf RWE-Gelände stand, kann er nicht mit Sicherheit sagen. Er vermute jedoch, dass nicht. Zumindest: „Es war kein bewusster Durchbruch.“

Friedlicher Beginn

Zunächst sei auch alles friedlich verlaufen, so schildert es Julius. Plötzlich habe ihm ein Polizist zwei Mal auf die Brust geschlagen und gebrüllt, dass er zurückweichen solle. „Ich habe den Hass in seinen Augen gesehen“, erinnert er sich. Das habe ihn darin bestärkt, standhaft zu bleiben. Anschließend habe der Beamte ihm „mit voller Kraft gegen den Knöchel getreten“ und als er dadurch zu Boden ging noch mit dem Knie gegen das Auge. Nachträglich wurde ihm eine Gehirnerschütterung diagnostiziert; aufgrund der Symptomatik habe der Verdacht auf Hirnblutung bestanden, den ein CT jedoch widerlegte.

Demosanitäter:innen vor einer Polizeikette.

Eine Anzeige hält er indes für aussichtslos. „Ich habe Angst, dass ich dann wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt angezeigt werde und es ist unmöglich, die Person zu identifizieren“, sagt Julius. Überzeugter zeigt er sich von den Konsequenzen, die die Aktivisti aus den Erfahrungen in Lützerath ziehen. „Bei vielen Leuten gibt es Radikalisierungspotenzial“, beobachtet der Philosophiestudent im eigenen Umfeld. Dabei sei gerade sein Studienumfeld nicht dafür bekannt, zur Tat schreiten zu wollen – und viel mehr die stillen Räume der Bibliothek zu bevorzugen.

Radikalismus, Extremismus und Radikalisierung

In politischen Debatten ist die Unterscheidung von Radikalismus und Extremismus von großer Bedeutung. Der Verfassungsschutz stellt hierzu klar: Bei „Radikalismus“ handelt es sich zwar auch um eine überspitzte, zum Extremen neigende Denk- und Handlungsweise, die gesellschaftliche Probleme und Konflikte bereits „von der Wurzel (lat. radix) her“ anpacken will. Im Unterschied zum „Extremismus“ sollen jedoch weder der demokratische Verfassungsstaat noch die damit verbundenen Grundprinzipien unserer Verfassungsordnung beseitigt werden.

Radikalisierung beschreibt im Unterschied zwar einen Prozess statt eines Zustands und ist nicht einheitlich definiert. Bei der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) ist dazu zu lesen: „Personen und Gruppen können sich radikalisieren ohne jemals extremistisch zu werden.“ Aktivisti meinen damit erfahrungsgemäß vor allem, verstärkt zivilen Ungehorsam zu leisten und zu protestieren. Die Gruppe „Letzte Generation“ etwa hat den Verzicht von Gewalt in ihrem Aktionskonsens festgehalten.

Bestärkt durch die Erfahrungswerte

Julius ist bereits in die Rote Hilfe, einen linken Schutz- und Solidaritätsverein für Opfer von Repressionen und zur Unterstützung bei Strafverfahren eingetreten. Neben weiteren Gruppen will er sich, bestärkt durch die Erfahrung in Lützerath auch bei der „Letzten Generation“ engagieren:

Ich habe das Gefühl, dass das der einzige flächendeckende Aktivismus ist, der mit zivilem Ungehorsam arbeitet. Der konstruktive Ansatz über die Bürgerrate gefällt mir; die Klimakrise ist ein demokratisches Problem.

Zu sehen und zu erleben, wie der Staat mit Gewalt und Repression auf zivilen Ungehorsam reagiere; die offene fossile Interessenverfolgung und die „Dummheit, Lützerath abzubaggern“, hätten ihn in seinen Vorhaben nachhaltig bestärkt. „Das demokratische System ist nicht dynamisch genug“, so sein frustriertes Urteil.

Prägende Erlebnisse

Weiter engagieren möchte sich auch Aktivistin Medusa. Sie hatte sich während der Räumung Lützeraths im Barrio „Phantasialand“ in einem der Stelzenhäusern aufgehalten: Dezentral in einzelne Viertel aufgeteilt, organisierten sich die Bewohner:innen der Barrios eigenständig und erarbeiteten für die Räumung beispielsweise einen Aktionskonsens, wie sie sich der Polizei gegenüber verhalten wollen. „Es hat mir sehr gut getan“, sagt sie über die Erfahrung: „Du kannst nicht nur leben, indem du verschiedene Stufen von Karriere durchlebst.“

Selbstwirksamkeit, die Erkenntnis, so eine Stresssituation durchzustehen, andere zu unterstützen – all das präge sich ein. Das stehe in Verbindung mit den einschneidenden Erfahrungswerten zahlreiche Aktivisti wie Juliusri, einer „breiten Masse und nicht nur Linksradikalen“.

Starke Bündnisse

Medusa verweist zudem auf die zahlreichen wie vielfältigen Gruppen, die sich für den Erhalt Lützeraths engagiert haben. Das könnte eine „riesige Vernetzungsgruppe für ein neues Ausmaß werden“, sagt sie.

Für einen wirksamen Protest müssten die Akteur:innen nun neue Ankerpunkte finden und Bündnisse schärfen. „Es darf nicht passieren, dass zu große Risse entstehen“, mahnt sie. Klimastreiks oder der feministische Kampftag böten die Gelegenheit, den öffentlichen Raum zu vereinnahmen.

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