Leonid Kucheruk hat die Kalender-Matrix im Kopf

Leonid Kucheruk aus Winnyzja hat die Kalender-Matrix im Kopf

Der Ukrainer Leonid Kucheruk hat eine Vorliebe für Kalendertage. Zu beliebigen Daten im Kopf kennt er den Wochentag. Genauso fit ist er im Schach, mit Geschichte und Politik.

Weißt du, welcher Wochentag der 5. Mai 2032 sein wird? Leonid Kucheruk braucht für die Antwort nur wenige Sekunden Überlegungszeit: ein Mittwoch. Egal, ob 100 Jahre in die Vergangenheit oder in die Zukunft – er beherrscht das System, Kalendertage zu zählen, wie kaum ein anderer. Mit dieser Fähigkeit begeistert er seine Mitmenschen und darf getrost als Stadtoriginal aus Winnyzja in der Zentralukraine bezeichnet werden. „Unikalʹnyy“ ist auch von seinen Kolleg:innen mehrfach zu hören – einzigartig.

Zufallsgespräch weckt das Interesse

Kucheruks Interesse für die Kalendertage entstand eher beiläufig, erzählt er. 1998 tauschte er sich mit Freunden aus und sie grübelten, welcher Tag wohl der 1. Januar 2001 sein würde; ein Montag. „Da habe ich angefangen, zu zählen auch die Schaltjahre“, schildert er. Denn genau darin liege die Herausforderung. Doch er habe diese Matrix an Zahlen verstanden und verinnerlicht. Das stellt er auch gerne unter Beweis, fragt nach den Geburtstagen seiner Gäste und legt los:

Mit „harter Arbeit“ könne eigentlich jede:r dieses Zählsystem erlernen, sagt Kucheruk. Er schränkt jedoch ein: „Man muss jeden Tag daran arbeiten.“ Deshalb freue er sich auch immer über neue Aufgaben und Herausforderungen.

Leidenschaft für Schach

Eine weitere Leidenschaft für ihn ist Schach. Vor allem die Eröffungszüge haben es ihm angetan, doch auch die Abläufe großer Partien der vergangenen Jahre begeistern ihn sichtlich. Die Abfolgen spielt er unmittelbar ab, als würde er im Kopf die Sequenzen in Hochgeschwindigkeit abspielen. Fast, als hätte er ein fotografisches Gedächtnis. Nur: Kucheruk ist blind, er sieht das Schachbrett also nicht. „Ich stelle mir das Schachbrett vor und ziehe aus den Erinnerungen“, erklärt er und schiebt hinterher: „Ehrlich gesagt bin ich kein guter Schachspieler.“ Gleichwohl hat er sich schon bei Stadtmeisterschaften beteiligt, ist gegen andere blinde und ebenso wie gegen sehende Spieler:innen angetreten.

Ebenso gerne beschäftigt sich Kucheruk mit seinem Fachgebiet Geschichte, 2004 hat er hierfür das Diplom als Lehrer erworben. Mit Politik kenne er sich ebenso gut aus. Mit der „Bobina“ (Бобина), einem Tonbandgerät mit Spulen, hat der 40-Jährige noch vor der Zeit der Kassenrekorder angefangen, sich mit Audios weiterzubilden. „Heutzutage ist das Lernen einfacher, weil die Technik weiterentwickelt ist“, sagt er.

Arbeit in der Bibliothek

Da es für ihn damals wegen der Blindheit keine Möglichkeit gegeben habe, als Lehrer zu arbeiten, betätigt sich Kucheruk inzwischen in bei „Inva-Inform“, einem Zentrum für Menschen mit Behinderung, das Teil einer öffentlichen Bibliothek in Winnyzja ist. Hier bereitet er etwa Hörbücher auf USB-Sticks vor, die dann ausgeliehen werden können. Mehr noch begeistert er hier die Kund:innen und Kolleg:innen mit seinen Fähigkeiten.

Eine Vision für die Welt

Was zehn Jahre nach dem Gespräch, am Mittwoch, 5. Mai 2032, in ein Geschichtsbuch schreiben würde? „Dass die Welt verrückt geworden ist“, beginnt Kucheruk. Aktuell befinde sie sich im Wandel und in einer angsterregenden Epoche – im philosophischen Sinne am Rande eines Zeitalters. „Leider sind Menschen wie Insekten, die für einen großen Wandel geopfert werden“, schildert er weiter. Gemeint ist, dass der Mensch offenbar nicht in der Lage sei, ohne Krieg und in Frieden zu leben.

Für dieses finstere Kapitel will er die Ukraine daher nicht isoliert betrachten. Auch wenn der Krieg gerade vor allem hier stattfindet und Ukrainer:innen die unmittelbaren Opfer des russischen Angriffs sind. „Ich habe Angst, dass die Welt irgendwann verschwindet“, sagt er; Luftalarme und Explosionen um ihn herum stören ihn da nach mehr als 70 Tagen offenbar weniger; Ukrainer:innen seien eben sehr anpassungsfähig, gibt er einen häufig gesagten Satz wider.

Doch ernähre die Ukraine zahlreiche andere Länder, denen durch den Krieg nun Hunger drohe. Hinzu kämen globale geopolitische, intellektuelle, wirtschaftliche und Umwelt-Aspekte. „Es ist wichtig, dass es Frieden auf der Welt gibt“, betont Kucheruk. Dass er hier die Ukraine nicht alleinstehend betrachtet, begründet er auch mit seiner Blindheit.

„Wenn man nichts sieht, kann man sich einfacher auf mehrere Dinge konzentrieren.”

Offenlegung: Unterkunft und Verpflegung in Winnyzja wurden von Dritten finanziert. Das hatte keinen Einfluss auf die Themenauswahl.

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