Lenas Gastgeberin in Kabul: 21 Jahre alt, Akademikerin und aktuell vor großen Hürden. Ein Einblick in das Leben einer jungen Frau in Kabul.
Ich sehe Nilab zum ersten Mal, als ich unerwartet früh vor ihrer Tür stehe. Aufgrund einer Sicherheitswarnung kann ich direkt nach meiner Landung am Kabuler Flughafen nicht sofort los aufs Ministerium. Stattdessen geht’s mit dem Taxi direkt zu meiner Gastfamilie. Die älteste Tochter, die eigentlich meine Gastgeberin wäre, ist noch in Pakistan. So habe ich Kontakt zu Nilab, ihrer jüngeren Schwester, die mir eine zweizeilige Wegbeschreibung zu ihrem Zuhause geschickt hat.
Und die klingeln wir an diesem Mittwochmorgen erstmal aus dem Schlaf; telefonisch. Als wir zwanzig Minuten später vor der Tür stehen, sieht sie immer noch etwas verschlafen aus. Ich entschuldige mich, sie geweckt zu haben, sie lacht und sagt: „Ich habe ja als Frau nichts zu tun; kann nicht studieren und nicht arbeiten. Da schlafe ich wenigstens aus.“ Trotzdem sind wir uns nicht unsympathisch und wenig später schon frühstücken wir zusammen und ziehen dann zu Fuß los, um zum Einen mein Handyguthaben aufzuladen und zum anderen mein Geld zu wechseln.
Dass wir ein Taxi nehmen müssten oder uns ein Mann begleiten sollte, ist keine Sekunde lang Thema. Sie kontrolliert nur kurz, ob mein Hijab – Kopftuch und schwarze Stoffmaske – auch richtig sitzt, bevor wir nach draußen gehen. Das allerdings vor allem, damit ich nicht als Ausländerin auffalle. Sie selbst trägt weder Schwarz noch bodenlang, sondern einen Kurzmantel über einer schmalen Jeans und darauf ein auf die Jacke abgestimmtes Kopftuch, das mich an die Männerschals erinnert, die meine allererste Kabuler Gastgeberin – und gute Freundin – und ich zu Republikzeiten getragen haben.
Lena musste ihre Reise deutlich früher als geplant abbrechen und konnte weder journalistisch arbeiten noch in Provinzen reisen. Der offizielle Grund: Das Konsulat, das ihr Visum ausgestellt hatte, habe die vorgeschriebene Vorgehensweise missachtet. So sei keine Presseakkreditierung möglich. Diese hatte Lena im Vorjahresjuli noch relativ problemlos erhalten.
Ich merke schnell: Die 21-Jährige, die einen Kopf kleiner ist als ich, ist tough. Sie lässt sich weder von komischen Sprüchen irgendwelcher Männer, aufdringlichen Straßenkindern noch den patrouillierenden Taliban einschüchtern. Im Gespräch erfahre ich dann, dass sie obendrein etwas studiert hat, das eigentlich „typisch Mann“ sei. „Mein Vater fand das anfangs gar nicht gut“, sagt sie. Erlaubt habe er ihr und ihrer Schwester dennoch, ihrem Traum nachzugehen. So hat sie dann Bauingenieurswesen studiert, auch wenn ihre Freundinnen nicht verstehen konnten, was sie daran interessiert habe. „Ich möchte einmal das höchste Hochhaus in Afghanistan bauen“, sagt sie und lächelt. Doch erst einmal wolle sie überhaupt in den Beruf einsteigen und am liebsten auch Auslandserfahrung sammeln. Dabei sei es ihr egal, ob es kleine oder große Gebäude seien, an denen sie beteiligt sei. Hauptsache: Bauen.
Dafür hat sie sich durchgebissen. Als die Taliban die Geschlechtertrennung an Universitäten einführten, bedeutete das gerade in Nilabs Studiengang einen ordentlichen Einschnitt: durch den geringen Frauenanteil saßen sie nur mehr zu zweit, maximal zu sechst in den Seminaren. Lerngruppen und der Besuch der Bibliothek fielen gänzlich aus. Beim Praxissemester schließlich mussten sie dann mitten im Sommer zusätzlich zu Helm und Warnweste auch schwarze lange „Hijabs“ auf der Baustelle tragen. „Das war so extrem heiß, weil das Schwarz einfach die ganze Hitze anzieht“, schildert sie. Und dennoch: Sie hat’s geschafft. Hat ihre Abschlussprüfungen und die Thesis geschrieben.
Dennoch darf sie sich nun nicht über ein abgeschlossenes Studium freuen. „Die Verteidigung meiner Thesis fehlt noch“, sagt sie. Das Studierverbot für Frauen sei dieser in die Quere gekommen. Acht Semester liegen nun hinter der jungen Frau, familiäre Widerstände und Unverständnis im Freundeskreis. Alles hat sie geschafft, nur um jetzt ohne Abschlusszeugnis dazustehen. „Ich hoffe, dass ich irgendwo im Ausland meinen Abschluss machen kann“, sagt sie. Und betont dann, dass sie auf gar keinen Fall komplett auswandern oder wegziehen möchte. „Ich liebe meine Heimat!“
Sie habe als Kind auch in Pakistan gelebt, als Zehnjährige sei sie zurück nach Afghanistan gekommen und habe dort gespürt, was Zuhausesein bedeute. Sie betont:
Das möchte ich nicht wieder verlieren.
Am Abend erhält sie einen Anruf, wird wortwörtlich blass um die Nase, schaut mich an und sagt: „Das sind schlechte Neuigkeiten.“ Ein Verwandter wolle heiraten, eine Achtzehnjährige. Auch dazu hat sie eine klare Meinung; von solchen Eheschließungen mit zu jungen Frauen hält sie wenig. Sie weigert sich auch, die besagten Avancen zu unterstützen und der Familie der Braut mit Geschenken und Süßigkeiten einen Besuch abzustatten. Ich erlebe einen ersten kurzen Familienstreit in dem Haus, in dem es sonst eher ruhig zugeht. Wenn nicht die kleinste der fünf Schwestern mit lautstark ihre Englischkenntnisse vorträgt.
Grundsätzlich mag sie Hochzeiten, sie hält mir ihre Kopfhörer hin, zeigt mir ein Video auf ihrem Handy. Sie und ihre Schwestern tanzen in fließenden figurbetonten Kleidern. Ich frage verdutzt nach: „War das aktuell?“ Sie nickt. Vor wenigen Monaten noch sei es den Frauen an dem Tag der Hochzeit, an dem sie unter sich gewesen seien, erlaubt gewesen, Musik zu hören und zu tanzen. Inzwischen allerdings sei auch das untersagt.
Jede Woche, so fühle es sich jedenfalls an, gebe es neue Einschränkungen für Mädchen und Frauen im Land, sagt sie. Vor ziemlich genau einem Jahr – im März 2022 – habe sie zunächst Hoffnung geschöpft. „Meine Eltern hatten mir aus den 90er-Jahren erzählt, von der letzten Talibanherrschaft und dass Frauen eigentlich gar nichts tun durften. Als dann die Universitäten für alle geöffnet wurden im März, dachte ich, vielleicht wird es diesmal nicht so schlimm.“ Doch dann seien die Regelungen immer drastischer geworden; zunächst folgten strengste Verschleierungsregeln an den Hochschulen, dann die Einschränkung der Studienfächer für Frauen und schließlich das Komplettverbot des Studierens.
Jetzt bleibe ihr eigentlich nur eines: Abwarten. Abwarten auf eine Chance im Ausland oder eine Veränderung im Inland. „Meinst du, dass wir Frauen bald unsere Rechte zurückbekommen oder zumindest wieder studieren dürfen?“, fragt sie mich und mir bleibt nur, es ihr sehr zu wünschen.
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