Trotz der hohen Aufnahmebereitschaft der Türkei ist das Leben für Syrer:innen dort aus verschiedenen Gründen schwierig. Eine Mutter berichtet aus ihrem Alltag.
Iman* ist 35 Jahre alt, Mutter von vier Kindern und lebt in einem Stadtteil von Cizre, den wir aus Sicherheitsgründen nicht benennen wollen. Wir lernen die Syrerin kennen, da wir versuchen, mit Zufallsbekanntschaften auf der Straße besser ins Gespräch zu kommen und nach jemandem fragen, der Englisch oder Arabisch spricht. Iman spricht Kurdisch und Arabisch, kommt aber nicht zum Übersetzen vorbei – sie nimmt uns sofort mit zu sich, damit wir „in Ruhe reden” können.
Covid-19 hat sie zur alleinerziehenden Witwe gemacht. Vier Monate ist es zum Zeitpunkt des Gesprächs her, dass ihr Mann verstorben ist. Vier Monate, in denen sie noch mehr auf sich allein gestellt war als zuvor, denn das Leben als „Gast” ist in der Türkei sowieso sehr einsam. Vier Monate, in denen sie sich nicht mehr “wohl und sicher” gefühlt habe, wie sie sagt. Denn für dieses Gefühl habe ihr Mann gesorgt.
Seit Imans Mann tot ist, kommen zu den bisherigen Herausforderungen neue hinzu. Selbst einfache Alltagstätigkeiten wie Einkaufen sind zum Spießrutenlauf geworden. „Wenn ich alleine rausgehe, werde ich als Schlampe beschimpft”, schildert sie. Sie gehe daher nie ohne ihre Kinder Lebensmittel kaufen. Zum Gespräch lädt sie in die Wohnung ihrer Schwester und ihres Schwagers ein, ihre eigene Wohnung möchte sie nicht zeigen und dort vor allem keine Gäste empfangen: „Sie ist viel zu klein.”
Dabei sei die Wohnung eine deutliche Verbesserung gegenüber der ersten Unterkunft, in der sie in der Türkei gelebt hätten. 2011 hätten sie in Mardin eine Bleibe gefunden: ohne Strom, mit kahlen Böden, Wasser sei außerdem nach drinnen getropft. Zwei Jahre lang hätten sie so gehaust. Die Nachbarn hätten sie zu unterstützen versucht, ihnen mit Kleiderspenden ausgeholfen. Die Menschen hier seien teilweise wirklich hilfsbereit gewesen, doch die zunehmende Armut, gerade in den kurdisch bevölkerten Gebieten, schade der Solidarität untereinander: “Viele haben Angst, dass wir ihnen die Arbeit wegnehmen, die sie haben. Diese Konkurrenz gibt es immer unter den Ärmsten.”
Die Syrerin zahlt für ihre aktuelle Wohnung fast das gesamte Geld, das sie an Unterstützungsleistung erhält. 500 Lira (zum Zeitpunkt des Gesprächs etwa 50 Euro) kostet die Miete, bei 620 Lira liegt Imans monatliches Budget. Als ihr Mann noch lebte, garantierte er als Wachmann auf einem LKW-Parkplatz das Einkommen. Das Geld reichte für die sechsköpfige Familie. Jetzt muss Iman eine andere Lösung finden. Seit Kurzem putzt sie vier Stunden täglich das Haus einer Türkin. 1500 Lira soll sie dafür im Monat erhalten: „Wenn sie ehrlich ist.” Mit „sie” meint sie die aktuelle Auftraggeberin, von der sie bisher noch kein Geld erhalten hat, da sie erst seit Kurzem für sie arbeitet. Sie wiederholt ihre Aussage, leichte Unsicherheit schwingt in ihrer Stimme mit. Ob ihre Auftraggeberin tatsächlich die versprochene Summe zahlt, wird sich erst herausstellen.
Iman lebt inzwischen seit zehn Jahren in der Türkei. Damals hatte sie gerade zwei Töchter, die eine ein Kleinkind, die andere noch ein Baby. Sie habe Luftangriffe erlebt und sagt:
„Ich konnte nachts nicht mehr schlafen aus Angst um meine Kinder.”
So seien sie bereits zu Beginn des Krieges gegangen. Zuerst von Damaskus in ihre ehemalige Heimat nach Qamishli und schließlich weiter über die Grenze in die Türkei. Hier hat sie dann zwei weitere Kinder bekommen. Die beiden und ihre beiden in Syrien geborenen Schwestern gehen inzwischen hier zur Schule.
Wie es ihnen da geht? „Sie werden von den anderen Kindern als “Syrer” beschimpft, als gehörten sie nicht dazu.“ Selbst türkische Kurd:innen grenzten sie aus und sagten: “Das ist unser Land.” Dabei sprechen die Kinder noch nicht einmal Arabisch, sondern lediglich Türkisch und Kurdisch. “Nur die Älteste kann ein bisschen Arabisch”, präzisiert Iman, “aber ein richtiges Gespräch kann man mit ihr nicht führen.” Ansonsten laufe es in der Schule gut für ihre Kinder, sie hätten mit dem Stoff keinerlei Probleme: “Sie sind ja hier aufgewachsen.”
Wohl aber bringe der Schulbesuch andere Schwierigkeiten mit sich: Der Bus und die Schulbücher sind teuer. So gehen die Kinder die viereinhalb Kilometer zu Fuß zur Schule: Bei den hohen Temperaturen und den staubigen, oft unbefestigten Straßen kein leichter Weg. Selbst direkt vor dem Haus schon beginnt die Straße holperig und unwegsam. 45 Minuten brauchen die Kinder für die Strecke etwa, schätzt sie, ein Blick nach draußen entpuppt die Schätzung als optimistisch.
Immerhin da sei nun Besserung in Sicht: Jemand habe angeboten, für den Schulbus zu zahlen, da die Kinder nun keinen Vater mehr hätten und mehr Unterstützung benötigten.
Beitrag veröffentlicht am Dezember 6, 2021
Zuletzt bearbeitet am Dezember 6, 2021
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