Durch Kinderarbeit sehen sich manche syrische Familien in der Türkei dazu gezwungen, den Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Organisation "Kids Rainbow" in Gaziantep unterstützt sie auf mehreren Wegen.
Schule statt Arbeit: Dieses Ziel verfolgt die Organisation „Kids Rainbow“ in Gaziantep. Mit aufsuchender Arbeit, enger Begleitung der Familien und einer Anlaufstelle in unmittelbarer Nachbarschaft des Viertels Akyol Mahellesi, in dem vorwiegend geflüchtete Menschen aus Syrien leben, will das Team vor allem den Kindern einen einfachen Zugang zu Bildung ermöglichen.
Eigentlich gilt die Schulpflicht in der Türkei zwar auch für syrische Kinder. Die wirtschaftlichen Probleme im Land, die auch den Türk:innen das Leben von Tag zu Tag erschweren, wirken sich auf die zugewanderten Familien noch stärker aus. „Innerhalb der vergangenen zwei Monate haben sich die Mietpreise verdoppelt“, nennt Nader Al Jarrah, Sprecher bei Kids Rainbow, ein Beispiel.
Mit 400 bis 600 Lira (nach aktuellem Wechselkurs derzeit zirka 40 bis 60 Euro) pro Monat lägen die Mietpreise in Akyol zwar nur bei einem Bruchteil des Durchschnitts in anderen Vierteln. Doch ohne geregeltes Einkommen sei die Kinderarbeit oft ein scheinbar unerlässlicher Teil, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Kinderarbeit bedeutet dabei etwa:
„Um ehrlich zu sein, gibt es eine große Zahl syrischer Kinder, die nicht in die Schule gehen“, bedauert Projekt-Manager Mustafa Karali. Besonders betroffen seien (Halb-)Waisen; fehlende Dokumente erschwerten den Zugang zu Bildung ebenfalls. Al Jarrah erzählt von zwei Jungen, die das Team von Kids Rainbow erst kürzlich auf der Straße getroffen habe; einer zehn, einer elf Jahre alt. „Sie arbeiten zwölf Stunden am Tag“, betont er; in der Fabrik und als Elektriker mit dem Vater – und das für 100 Lira (10 Euro) pro Woche. Doch davon lasse sich immerhin die Miete bestreiten.
Zum Vergleich: Über das Rote Kreuz erhalten zahlreiche Familien finanzielle Unterstützung. „Das sind um die 140 Lira pro Person – das ist nichts für sie“, weiß Karali aus den Gesprächen. Auch wenn er schätzt, dass rund 80 Prozent der Familien im Viertel diese Leistung bekommen. Gerade angesichts der grassierenden Inflation sei dieser Betrag immer weniger wert.
Menschen leben insgesamt in Gaziantep.
beträgt der hier der syrische Bevölkgerungsanteil.
der insgesamt 1,6 Millionen syrischen Kinder im schulpflichtigen Alter haben in der Türkei vor der Pandemie eine öffentliche Schule besucht. Im Vergleich zu anderen Aufnahmeländern ist das eine gute Quote.
Doch wie kann Kids Rainbow hier helfen? „Wenn wir Kinder auf der Straße arbeiten sehen, sprechen wir sie an, ob sie eigentlich zur Schule gehen“, schildert Karali das Vorgehen: „Falls nicht, bitten wir sie um Kontakt zur Familie und suchen das Gespräch mit den Eltern.“ Der Schwerpunkt liege auf Kindern im Alter von sechs bis zwölf Jahren.
Eine erfolgversprechende Strategie habe das Team zwar noch nicht gefunden, auch da das Thema bei den Familien enorm schambehaftet sei. „Sie haben aber einen guten Grund dafür: Sie brauchen Geld, die Kinder sind teilweise Halbwaisen“, wirbt der Projekt-Manager um Verständnis für die Situation der Betroffenen. Zu Beginn sei das Team selbst schockiert gewesen: „Die Kinder leiden wirklich.“ Einen Vorteil bei dieser Arbeit sieht er in der Zusammensetzung des Teams: Es bestehe selbst aus Syrer:innen mit Fluchtgeschichte, die mit ihren Familien im Quartier wohnen. Kulturelle oder sprachliche Schwellen seien dadurch gering
Es ist wirklich einfach, Kontakt zu den Familien zu bekommen. Sie können über ihre Probleme und Weiteres auf Arabisch reden.
Mustafa Karali
Projekt-Manager bei Kids Rainbow
Ihre Einrichtung verstehen die beiden daher als sicheren Raum für die Familien. „Wir bieten non-formale Bildung“, sagt Karali über die Aktivitäten für die Kinder. Zeichnen, basteln, musizieren, kochen, sportliche Angebote zählt er auf. Hinzu kommen Projekte wie ein Fotografiekurs oder ein Theaterstück – und ganz wichtig: Sprachkurse. Türkisch und Englisch ebenfalls im Programm genieße vor allem Arabisch einen hohen Stellenwert. „Viele Eltern sind nicht gebildet, sie sprechen die Sprache nur“, führt der Projekt-Manager aus. Entsprechend könnten sie ihren Kindern die Muttersprache nicht lehren. Durch die Dialekte werde so auch das formelle Arabisch kaum vermittelt. Dabei halte sich der schulische Aufwand in Grenzen: „Ein Jahr reicht, um lesen, schreiben und sprechen zu lernen.“
Eben hier setzt Kids Rainbow an – und bereitet die Kinder gleichzeitig auf die öffentlichen türkischen Schulen vor. Die Sprachbarriere sei neben Rassismus das größte Problem für die Integration, sagt Al Jarrah. Durch eine Partnerschaft mit dem Institut Halk Eğitim Merkezleri (HEM – öffentliche Bildungszentren), das Türkischlehrer:innen schickt, um den Kindern ein Sprachzertifikat für den Schulbesuch auszustellen – so lässt sich immerhin diese Hürde abbauen. Für andere Aktivitäten arbeitet die Organisation ebenfalls mit türkischen Partner:innen zusammen. Auch, weil die eigenen Räume derzeit umgebaut werden.
Syrische Kinder in der Türkei sehen sich zunehmend einer zweifachen Belastung beim Spracherwerb ausgesetzt, wie Kids Rainbow beobachtet. Mangels Kontaktes zur türkischen Bevölkerung lernten sie kaum türkisch, durch fehlende Bildung blieben gleichzeitig die Arabischkenntnisse außen vor. „Viele Eltern sind nicht gebildet, sie sprechen nur die Sprache“, erläutert Karali, manche hätten nie die Schule besucht. Unterrichten könnten sie die Kinder daher nicht.
Hinzu komme, dass Hocharabisch höchstens in den Fernsehnachrichten gesprochen werde. Im Alltag spielten die Dialekte eine deutlich wichtigere Rolle. „Die fehlende Bildung der letzten fünf bis sechs Jahre ist für die Kinder die größte Hürde, um Hocharabisch zu verstehen“, sagt Al Jarrah. Schulen für syrische Kinder, in denen auch nach einem arabische Unterrichtsplan gelehrt wurde, sind seit 2016 flächendeckend geschlossen worden.
Vor der Coronavirus-Pandemie hatte das Quartierszentrum von Kids Rainbow wochentags täglich von 10 bis 17 Uhr geöffnet. Derzeit sind die Kinder in Gruppen aufgeteilt und besuchen die Kurse abhängig von Schulzeiten, sofern sie inzwischen eine besuchen, von 10 bis 12 sowie von 15 bis 17 Uhr, da die NGO derzeit kein eigenes Gebäude hat.
Das neue Gemeinschaftszentrum ist derzeit im Ausbau. Karali führt durchs Haus, in dem fleißig gestrichen und gewerkelt wird: Vom – vor Kurzem selbst überdachten – Innenhof führt eine Treppe hinauf in eines der Zimmer, daneben liegt die kleine Küche. Eine noch schmalere Treppe führt hinauf in einen kleinen Raum, der den Kindern als Rückzugsort dienen soll, noch etwas höher liegt der Dachboden. Während aktuell noch Lücken zwischen den Ziegeln erkennbar sind, gibt es schon große Pläne für das heimelige Dachgeschoss, sobald es neu isoliert und ausgebaut ist: „Hier möchten wir unser Kino einrichten.“
Karali freut sich, dass das Haus mit den schön gefliesten Böden, dem Innenhof und dem eigenen Feigenbaum, der an der Treppe nach oben wächst, bald syrischen Kindern einen sicheren Aufenthaltsort bieten kann: „Die Häuser in Syrien sind genauso aufgebaut.“ Überhaupt erinnere ihn das gesamte Viertel stark an Syrien. Man erkenne hier die Nähe der beiden Länder.
Die statistische Auswertung der Organisation kann sich übrigens trotz der aktuellen Einschränkungen sehen lassen:
Darüber hinaus stattete die Organisation im zurückliegenden Winter 45 Familien mit passender Kleidung und Gutscheinen für einen Supermarkt aus; 3000 Euro sammelte sie dafür. Als Organisation, bei der man Spenden oder sogar Geld bekommt, möchte sich Kids Rainbow allerdings nicht verstanden wissen. „Dann erzählen die Leute, dass wir die sind, von denen man Gutscheine bekommt und der eigentliche Sinn unserer Arbeit geht verloren“, erklärt Karali. Sei ein dringender Bedarf da, so gäben sie einen Hinweis an andere NGOs, die sich auf Nothilfe spezialisieren: „Die suchen dann die Familie eigenständig auf, ohne dass ein Bezug zu uns hergestellt wird.“
Beitrag veröffentlicht am Oktober 28, 2021
Zuletzt bearbeitet am Oktober 28, 2021
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