Transkript des Interviews mit Juli Karzanova aus Tschernihiw

Juli Karzanova dokumentiert den Alltag in der vom Krieg zerrütteten Stadt Tschernihiw in der Ukraine.

Vor einigen Tagen haben wir Juli Karzanova zur Situation in Tschernihiw interviewt. Hier ist das vollständige Transkript des Interviews nachlesbar.

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Report vor Ort: Juli lebt in Tschernihiw in der Nordukraine. Seit mehreren Wochen wird die Stadt von russischen Truppen umzingelt und angegriffen. Seitdem dokumentiert Juli ihre Aktivitäten und ihren Alltag und postet sie in den sozialen Medien. Ursprünglich wollten wir mit ihr in einem Videotelefonat sprechen, aber an ihrem Ort plötzlich kein Strom mehr verfügbar war, konnte Juli ihr Handy nicht aufladen. Sie bot uns an, dass wir ihr schriftliche Fragen schicken können und sie Audiobotschaften für uns aufnehmen wird. Ihre Aussage stammt vom Dienstag, den 28. März 2022. Unsere erste Frage war, wie sie sich gerade in diesem Moment fühlt, in dem sie die Nachricht liest.

Juli Karzanova

Unsere erste Frage war, wie sie sich gerade in diesem Moment fühlt, in dem sie die Nachricht liest?

Juli Karzanova: Ich bin sehr müde und erschöpft, und ich bin sehr deprimiert und traurig, weil das Chaos, das wir in der Stadt haben, einfach unglaublich ist: zwischen Menschen, zwischen Militärs, zwischen Freiwilligen. Es ist sehr schwer zu erklären. Es ist, als hättest du jeden Tag Millionen Höhen und Tiefen.

Wie ist die Situation mit Nahrung und Wasser im Moment?

Gestern hatten wir in einigen Gegenden der Stadt für ein paar Stunden Wasser. Viele Menschen haben wochenlang kein Wasser, keine Nahrung und keinen Strom gesehen. Die Hauptautobrücke wurde zerstört, bombardiert. Wir können keine humanitäre Hilfe mehr bekommen. Und die Situationen werden wirklich hart. Es gibt viele Menschen, die kein Internet haben, die kein Telefon haben. Niemand weiß von ihnen. Ihnen fehlen Lebensmittel, Medikamente und Wasser. Es ist nichts da. So viele Menschen, von denen ich jeden Tag erfahre, haben kein Essen. Sie haben kein Wasser. Niemand hat ihnen geholfen, denn weißt du, vor nicht allzu langer Zeit, ich schätze, vielleicht vor ein paar Wochen, vielleicht vor 10 Tagen, haben wir die ganze Stadt in Bereiche für die Freiwilligen aufgeteilt. Jede:r Freiwillige aus einem bestimmten Bereich hilft also nur diesem Bereich. Aber irgendwie hilft meine Freiwilligengruppe der ganzen Stadt, einschließlich Krankenhäusern, Militär, Zivilisten und Haustieren.

In deinem Video. Du zeigst auch etwas vom Alltag, zum Beispiel wie du deine Haare wäschst. Aber kannst du vielleicht deinen Alltag für ein ausländisches Publikum beschreiben, das hauptsächlich Nachrichten über die militärischen Entwicklungen bekommt und mit den alltäglichen Herausforderungen nicht so vertraut ist?

Also zu aktuellen Herausforderungen, du kannst du nicht wie ein normaler Mensch auf die Toilette gehen. Weißt du, du kannst dich nicht waschen. Es gibt kein Gas, um das Wasser aufzuwärmen, um sich wenigstens untenrum zu waschen. Draußen ist es super kalt und alles, was du warm anziehen würdest, hilft nicht wirklich. Du musst im Keller schlafen. Manche Leute schlafen in einem Luftschutzbunker, wenn sie Glück haben. Aber dort ist es sehr kalt und es stinkt. Und weißt du, wir denken nicht einmal darüber nach, wie wir jetzt aussehen. Es ist überhaupt nicht wichtig, aber weißt du, für Menschen aus dem 21. Jahrhundert ist das natürlich sehr schwierig. Alle werden wieder so aggressiv, weil wir alle stinken. Es gibt nicht genug Duschgel, Shampoo und weißt du, all dieses Zeug für alle und es ist unglaublich. Aber weißt du, inmitten all dessen finden wir zwischen Granaten und Artillerieangriffen eine Gelegenheit, zumindest für eine Sekunde ein Lächeln auf unseren Gesichtern zu haben. Und es ist sehr beängstigend, aber am beängstigendsten ist, dass sich die Leute an das Geräusch von Granaten gewöhnt haben und es uns in Ordnung erscheint. Und die größte Herausforderung für mich als Freiwillige ist, Menschen weinen zu sehen, weil wir ihnen kein Essen geben können, weil es nichts zu geben gibt. Weil es nicht die Medikamente gibt, die sie brauchen. Ich kann nicht wirklich in Worte fassen, um zu sagen, wie viel Schmerz wir empfinden, wie sehr wir, wir alle, verletzt sind. Menschen zu sehen, deren Häuser bombardiert wurden und die nirgendwo hin können, die ihre Angehörigen verloren haben. Und weißt du, in ihren Augen ist die Hoffnung verloren. Weißt du, es ist schrecklich.

Du bist eine Künstlerin. Wir können uns vorstellen, dass sich dein Leben seit Beginn der russischen Invasion drastisch verändert hat. Hilft dir deine Kunst oder das, was du als Künstlerin gelernt hast, in irgendeiner Weise, unter den gegenwärtigen Umständen zu überleben?

Ich glaube, man kann sich nie auf den Tod und den Krieg vorbereiten. Aber für mich als Künstlerin denke ich, dass ich ziemlich zäh und auf solche Sachen vorbereitet bin, weil mein Leben vorher auch ein großer Kampf war. Und ich habe viele Jahre unter sehr schwierigen Umständen gelebt. Also (denkt nach) zum Beispiel meine Mutter, sie war nicht so vorbereitet. Und irgendwann wurde sie meine Tochter. Weißt du, ich musste mich also um sie kümmern. Ich bin wirklich stark geworden. Das spüre ich jetzt.

Du hast bereits erwähnt, dass es euch immer noch an Grundversorgung wie Nahrung und Wasser mangelt. Auch trotz fehlender Stromversorgung kannst du viele Informationen und Videos teilen. Also, wie viele Minuten für Telefongespräche, SMS oder Kommunikation hast du pro Tag und wie nutzt du die?

Da es keinen Strom gibt und es draußen kalt ist, geht der Akku sehr schnell leer. Also benutze ich morgens mein Handy, um ein paar Videos zu drehen, um sie auf Instagram zu posten. Dann verwende ich mein Telefon tagsüber nur für Anrufe und Nachrichten innerhalb der Stadt für meine ehrenamtliche Tätigkeit. Und ja, vielleicht nein… Abends poste ich nicht viel. Also insgesamt würde ich sagen so zwei, drei Stunden am Tag.

Und wann hast du dich entschieden, deine Stimme zu erheben und der Welt zu erzählen, was in deiner Stadt und deinem Land passiert?

Ich habe am ersten Tag angefangen, meine Stimme zu erheben, ich hatte eine ungefähr 600 Follower auf meinem Instagram und irgendwie habe ich jetzt fast 22.000 und es ist ziemlich schockierend für mich. Ich denke, der Grund dafür ist, weißt du, dass ich nicht glauben konnte, dass es passiert. Und tatsächlich war der Auslöser eine meiner besten Freundinnen, die in London lebt. Sie ist eine chinesisch-englische Frau. Sie hat mir eine Nachricht geschickt, Juli, du musst London besuchen, weil du weißt, die Ukraine ist jetzt so beschissen. (Wütend und lauter) Und das war etwas, das mich so sehr gereizt hat. Weißt du, mir wurde klar, dass ich niemals, niemals zulassen werde, dass jemand so etwas über mein Land sagt. Ich bin nicht diejenige, die dorthin gehen wird, um ein besseres Leben zu suchen, weil die Ukraine jetzt so beschissen ist, wie sie zu mir sagte. Ich fühlte, dass es meine Mission ist, hier zu sein, um die Wahrheit zu sagen, weil ich im Moment die einzige Person bin, die in Tschernihiw Englisch spricht und alle Informationen gibt. Ich bin immer noch so schockiert und ich kann nicht glauben, dass es passiert, aber irgendwie haben mir meine Englischkenntnisse geholfen, die Nachricht zu verbreiten und die Aufmerksamkeit aus so vielen Ländern zu bekommen, was für mich, weißt du, persönlich schwierig ist, weil ich nie berühmt werden wollte. Ich konnte es mir nicht vorstellen. Wie es sich anfühlt, ein so großes Publikum zu haben? Das sind zu viele Leute für mich. Und natürlich gibt es Menschen, die Menschen verstehen, aber auch Menschen, die sie nicht verstehen und auch jede Menge Aggressionen, mit denen ich fertig werden muss. (Denkt nach). Aber ja, ich bin wirklich sehr glücklich, weil mein Konto vor ein paar Tagen gehackt wurde und einer meiner Follower aus Polen mir gerade geholfen hat, mein Konto zurückzubekommen. Und ich glaube, er hat sogar an den Hacker bezahlt, um es zurückzubekommen. Und ich denke, weißt du, ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich so viele Seelenverwandte auf der ganzen Welt haben würde.

Was ist Ihrer Meinung nach das Wichtigste, was die Welt jetzt wissen muss?

Weißt du, ich bin wirklich an der Frage hängengeblieben. Es bringt mich zum Weinen. (Fängt an zu weinen.) Ich möchte, dass die Welt weiß, dass wir ohne Grund leiden und sterben. Ich möchte, dass die Welt weiß, dass dies ein Spiel der Politiker:innen ist und die einfachen Menschen leiden, ich möchte, dass die Welt weiß, dass ich nicht weiß, wie viel Geld die Menschen spenden, wie viel humanitäre Hilfe in die Ukraine kommen sollte. Aber ich sehe hier in meiner Heimatstadt, weißt du, hat uns nur ein bisschen humanitäre Hilfe erreichen können, unser Militär leidet im Alltag, wirklich nur ein bisschen Essen, ein bisschen Medizin, keine wichtigen Waffen, Munition, kugelsichere Sachen. Und weißt du, mein Englisch ist nicht so gut für militärische Begriffe. Aber viele wichtige Dinge für sie können uns nicht erreichen. Alles steckte in Kiew fest, und weißt du, meine ganze Hoffnung gilt dem Militär, und ich bin ein gewöhnlicher Mensch, ich kann das Militär nicht um Unterstützung bitten, weil sich unsere Regierung darum kümmert. Und ich verstehe nicht, warum passiert das? Warum sagen unsere Lokalnachrichten nichts über Tschernihiw? (Pause, Schluchzen). Tut mir leid.

Was erwartest du also von uns? Was sollten wir als Journalist:innen aus Deutschland an die Öffentlichkeit bringen, insbesondere in unserem Land und eines Völkermordes an deinem Land schuldig?

Natürlich braucht man nicht so viel Hirn, um zu verstehen, warum die NATO unseren Himmel nicht schließen will. Aber weiß du, ich weiß viel – und viele Menschen auf der ganzen Welt fühlen sich hoffnungslos und es tut mir leid. Und niemand will den dritten Weltkrieg, aber unser Land und unser Volk leiden ohne Grund! Ich schätze, um die ganze Welt vor nur einem Verrückten zu retten, der keinen Schritt zurück machen wird. Das weiß ich. Weißt du, ich flehe euch wirklich auf meinen Knien an. Bitte helft uns, gehört, gesehen und nicht vergessen zu werden. Wir wollen wissen, was der Grund für unseren Tod ist?! Warum so ein mächtiges Leute auf der Welt jeden Tag nichts tun. Schon 34 Tage, (schluchzt) die scheinen endlos, oh mein Gott!

Wie können Menschen Sie und Ihr Land gerade jetzt unterstützen?

Weißt du, das Schlimmste im Moment ist, dass die Stadtverwaltung diese Situation in keiner Weise regelt. Die Sache liegt also auf den Schultern der Freiwilligen. Und da es im Moment wirklich problematisch ist, Hilfe in die Stadt zu bekommen, bitte ich meine Follower nur, bei mir zu bleiben und dem Update zu folgen. Vielleicht wird sich die Situation bald bessern und wir werden die Nationen brauchen. Aber jetzt gerade, als ich die Nachrichten für euch aufnehme: Ich weiß wirklich keine Antwort, weil ich ehrlich sein muss. Ich vertraue niemandem.

Apropos Vertrauen, was ist die schlimmste Lüge, die über die Situation in der Ukraine verbreitet wird, die dir bekannt ist? Und die korrigiert werden sollte?

Lügen über das Rote Kreuz, das uns helfen würde, was nicht stimmt. Sie halten zu Russland. Ich hatte auch ein Video. Sie geben Informationen, das kannst du googeln. Sie haben ihren Stützpunkt in Rostow am Don, was in Russland liegt. Und sie bringen ukrainische Flüchtlinge nach Russland. Ich möchte auch, dass die Leute wissen, dass viele Frauen vergewaltigt wurden, Mädchen, kleine Mädchen, 15, 16 Jahre alt. Ich möchte auch, dass die Leute wissen, dass es weh tut, immer noch diesen Putin-Glauben zu hören. Er tue nichts in der Ukraine. Er führe keinen Krieg und dass mehr als die Hälfte der Bevölkerung nur einer Gehirnwäsche unterzogen würde. Weißt du, es ist so schmerzhaft, weil ich selbst Halbrussin bin. Ich habe eine, eine russische Oma, und weißt du, mein ganzes Leben lang wusste ich, dass wir Russ:innen und Ukrainer:innen, weißt du, Brüder und Schwestern sind, und die Menge an Hass von Zivilist:innen, russische Zivilist:innen, die wir jetzt haben, es ist einfach so schmerzhaft zu sehen, dass sie rumheulen, weil sie zum Beispiel kein Instagram mehr haben oder weil sie zum Beispiel keine Tampons mehr haben, es ist herzzerreißend, weil sie uns auslachen, weil wir in Luftschutzbunkern und Kellern schlafen, weil wir von Flugzeug aus angegriffen und bombardiert werden. Und für sie ist es nichts, sie schreien nach Instagram und anderen Sachen. Weißt du, es ist urkomisch.

Ich meine, die Situation in Tschernihiw klingt schrecklich. Gibt es eine Möglichkeit für dich zu gehen?

Was die grünen Korridore betrifft, es gab nie einen grünen Korridor aus Tschernihiw, aber es gab ungefähr eine Woche, in der die Leute wie verrückt waren. Es waren wirklich viele, die die Stadt verlassen haben. Und die meisten von ihnen kamen sicher nach Kiew und in den Westen der Ukraine, so wie meine Familie. Jetzt kannst du nur noch laufen, es gibt eine Brücke, über die man gehen kann, nicht fahren, nur gehen, aber dort drüben werden Leute getötet. Und das ist eigentlich nicht nur jetzt, es ist jedes Mal ein Risiko, es ist gefährlich.Das ist wie russisches Roulette. Wirst du getötet oder nicht – es gibt keinen Ausweg aus Tschernihiw. Und selbst als wir die Möglichkeit hatten zu gehen, wollte ich nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich gehen sollte. Ich, weißt du, ich fühle es einfach in meinem Inneren, dass ich hier bleiben muss, weil ich hier sehr nützlich bin. Und ich, weißt du, ich kann mir mein Leben jetzt nicht irgendwo anders vorstellen. Ich, mein Herz, meine Seele, mein Alles gehören hierher. Und ich fühle mich ruhiger, weil ich weiß, dass meine Familie vorerst nicht hier ist. Und weißt du, das ist das Wichtigste für mich. Und wenn ich die Möglichkeit hätte zu gehen, würde ich es nicht tun, weil mein Partner Soldat ist. Und weißt du, wir bleiben hier bis zum Schluss. Wir sind die Menschen, die Geschichte erschaffen, und wir sind Menschen, die keine Angst vor dem Tod haben, denn, weiß du, es gibt noch etwas mehr als, weißt du, nur die eigene Sicherheit oder die Sicherheit der Familie. Und ich weiß, dass das Herz meiner Mutter von meiner Entscheidung, hier zu bleiben, gebrochen ist, aber es ist meine Entscheidung. Und ich wirklich jeder sollte das respektieren und mich nicht für verrückt halten. Ich weiß nicht, wie andere Menschen auf alles reagieren würden, was gerade passiert?

Das war die Aussage von Juli aus Tschernihiw. Ihr könnt ihr auf Instagram folgen. Der Spitzname ist „@femaleonacid“. Die Aufnahme wurde am 28. März 2022 aufgenommen.

Beitrag veröffentlicht am April 9, 2022

Zuletzt bearbeitet am April 9, 2022

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