Journalist:innen arbeiten in der Türkei unter erschwerten Bedingungen. Die Tageszeitung “BirGün” bemüht sich trotz der Repressionen um freie Berichterstattung.
Die Redaktionsräume liegen etwas abseits einer Hauptstraße. Für Fußgänger ist kaum erkennbar, dass zwischen den Metro-Stationen Gayrettepe und Mecidiyeköy in Istanbul die landesweite, linke Tageszeitung „BirGün“ produziert wird.Erst beim zweiten Blick über den Vorhof des unscheinbaren Gebäudes fallen die Fensterläden aus Stahl auf und das Drehkreuz mit Metalldetektor vor der Eingangstür.
Die Zeitung wähnt sich als eines der letzten freien Medien der Türkei. Rund 90 Prozent der Print-, Radio- und TV-Publikationen sollen unter direkter oder indirekter Kontrolle der Regierungspartei AKP stehen; Dutzende wurden in den vergangenen Jahren wegen ihrer Kritik an Machthaber Recep Tayyip Erdoğan geschlossen.
In diesem angespannten Umfeld behaupten sich Ibrahim Varlı, Chefredakteur bei BirGün, und rund 50 Journalist:innen an drei Standorten. Der Preis einer Ausgabe liegt bei derzeit 6 Lira, umgerechnet rund 30 Cent. Nicht mehr als eine Tasse Tee soll sie kosten, damit jede:r sie sich leisten kann. Varlı spricht noch immer solides Deutsch, zwei Jahre hat er in Solingen gelebt. Für das Gespräch mit seinen deutschen Besucher:innen wenige Tage vor dem ersten Wahlgang setzt er sich auf einen Hocker im Studio, die Scheinwerfer auf ihn gerichtet. Die Fernseher im Hintergrund zeigen eine atmosphärische Nachrichtenkulisse. Für das Interview wechselt der 46-Jährige in seine Muttersprache.
Für den Journalisten steht der Verlierer dieser Präsidentschaftswahl ganz unabhängig vom Wahlergebnis fest. „Erdoğan hat die Wahl in den Augen der Massen bereits verloren, in ihren Herzen“, ist Varlı überzeugt. Sorgen bereite ihm jedoch, dass sich das nicht an den Wahlurnen zeige. Mit Wirtschafts-, Politik- und Sozialkrise gebe es aus seiner Sicht ausreichend Gründe, die amtierende Regierung abzuwählen.
Die klare Positionierung des BirGün-Chefredakteurs überrascht wenig. Eine neutrale Berichterstattung ist dem Team unmöglich, wie er ausführt:
Es ist schwierig, journalistisch tätig zu sein. Für uns sind die Informationskanäle geschlossen und Mauern errichtet. Wir erfahren nichts von den staatlichen Stellen.
Die Pressefreiheit in der Türkei sei bereits in der Zeit vor Erdoğan eingeschränkt gewesen. Doch unter ihm hätten die Repressionen quasi täglich zugenommen:
„Es gibt nicht einmal einen Funken an Recht. Die Pressefreiheit wird willkürlich eingeschränkt. Vieles, was wir sagen, schreiben, zeichnen kann zur Bestrafung durch die Regierung führen.“
Dabei gehe die Regierung schlau vor. So offensichtlich gegen die Pressefreiheit werde nicht vorgegangen, dass etwa die Polizei die Redaktionsräume durchsuchen würde.
Da Journalist:innen die Machenschaften der Mächtigen aufdeckten, stünden sie besonders im Fokus und sähen sich Diskreditierungen ausgesetzt. „Sie sehen Medien als die größten Feinde“, sagt Varlı. In Städten wie Erzurum könnten sie kaum recherchieren, ohne verhaftet zu werden. Auch für belegte Wahrheiten oder kritische Berichte, die staatliche Institutionen wie den Rechnungshof zitierten, müssten sie kostspielige Rechtsstreite mit einer befangenen Justiz und Strafzahlungen befürchten. „Selbst wenn wir positiv über sie berichten, können sie die Informationen zurückziehen und sie leiten eine Untersuchung ein“, formuliert er überspitzt. Weil sich die Klagen häufig auch gegen die Chefredakteur:innen als Privatpersonen richteten, müsse der Posten entsprechend oft gewechselt werden. Varlı spricht von Hunderten Prozessen, die derzeit gegen seine Zeitung liefen.
Hinzu komme der wirtschaftliche Druck, zumal staatliche Institutionen in kritischen Medien wie BirGün keine Anzeigen schalteten. Außerdem sei das Vertriebsmonopol in dem Flächenland in Hand von Angehörigen der Regierungsvertreter:innen. Varlı fasst zusammen:
„Rechtlich, politisch und wirtschaftlich stehen die Zeitungen unter großem Druck.“
Dennoch gebe es in der Türkei einige Journalist:innen, die gewissenhaft arbeiteten und diese Risiken auf sich nähmen. Entsprechend sieht Varlı ein Ungleichgewicht, das den Machthabern deutlich mehr Sichtbarkeit verschafft. Im Monat vor der Präsidentschaftswahl hatte der Staatssender TRT dem amtierenden Präsidenten, Recep Tayyip Erdoğan, 32 Stunden Sendezeit eingeräumt. Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu erhielt dagegen lediglich 32 Minuten. „Die Opposition kann sich kaum ausdrücken und findet keine Kanäle“, bilanziert Varlı. Eine Rede Erdoğans kurz vor der Wahl hätten 15 Sender gleichzeitig übertragen, während Kılıçdaroğlus Beitrag lediglich von zweien berücksichtigt worden sei. Dieses Ungleichgewicht hatten auch OSZE-Wahlbeobachter:innen moniert.
Durch das Internet finde sie immerhin Wege, sich dennoch Gehör zu verschaffen. Gleichzeitig steige dort die Gefahr von Falschnachrichten, denen sich auch die regierungstreuen Sender bedienten – und so noch größeren Resonanzraum dafür zulasten der Opposition schafften. Das habe sich auch schon in anderen Ländern wie den USA, Brasilien oder Montenegro gezeigt; Varlı nennt das Beispiel von Cambridge Analytica und spricht auch in der Türkei von „schwarzer Propaganda“. Für sein Team bedeute das gerade in Zeiten von Manipulationen mit Künstlicher Intelligenz, immer wieder die Fakten zu prüfen. „Menschliche gegen künstliche Intelligenz“, fasst er zusammen. Im türkischen Wahlkampf hätten jedoch Deep-Fake-Videos und andere, neue Fälschungsmethoden eine geringere Rolle gespielt als zunächst befürchtet.
Auch wenn die Wahlergebnisse für die Opposition nach der ersten Runde schlechter aussahen als erhofft, gibt sich der 46-Jährige optimistisch. „Es ist egal: Jetzt oder nächste Wahl schicken wir Erdoğan und seine autokratische Herrschaft weg“, sagt Varlı. Die Türk:innen liebten ihr Land und kämpften dafür.
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