“Sie herrschen mit Angst”: HDP Mardin über die Situation in der Türkei

“Sie herrschen mit Angst”: HDP Mardin über die Situation in der Türkei

Perihan Ağaoğlu kennt ihre Schatten. Kaum tritt die Co-Provinzvorsitzende der HDP in Mardin nach dem Gespräch aus der Parteizentrale, drängt sich trotz freier Straße eine Gruppe Männer im Anzug durch sie und ihre Parteikolleg:innen. Dieses Mal gehen sie nur vorbei – doch Ağaoğlu ist auch schon bei „Anti-Terror-Operationen“ verhaftet worden. Beim anschließenden Restaurantbesuch weist sie mehrfach auf die unerwünschten Begleiter hin; mit manchen von ihnen hat sie inzwischen Selfies auf dem Smartphone gespeichert. Doch sei sie um die Sicherheit des Interview-Teams besorgt.

Das demokratische Gefühl ist zerstört

Nach rund einer Stunde des Interviews bittet die Politikerin dann auch, bald zum Ende zu bekommen. Sie fürchte, wenn die Gruppe am Abend so lange in den Büroräumen der Partei weilt, könne das Verdacht erregen und die Sicherheit der Gäste gefährden. Über dem Gespräch schwebt ein Gefühl des Unbehagens. Trotzdem reden Ağaoğlu und ihre Mitstreiter:innen offen über das, was sie bewegt. „Wir hätten uns gewünscht, dass ihr bereits 2015 da gewesen wärt“, richtet sie gleich zu Beginn auch Kritik an die deutschen Pressevertreter. Cizre, Diyarbakır-Sur, Nusaybin, Mardin… in den mehrheitlich von Kurd:innen bewohnten Gebieten habe die Regierung mit den Angriffen jedes demokratische Gefühl zerstört. Presse, gerade ausländische Presse, habe sich derweil kaum blicken lassen. Auch auf die Frage, wann denn zuletzt deutsche Politiker:innen oder eine EU-Delegation vor Ort gewesen sei, folgen nur ratlose Blicke.

Perihan Ağaoğlu
Perihan Ağaoğlu

Die schlimmsten Kampfhandlungen zwischen Militär und verschiedenen Polizeiorganen auf der einen, und Unterstützer:innen der kurdischen – wahlweise Arbeiterpartei oder Terror-Organisation – PKK und den sogenannten Volksverteidigungseinheiten YPG mögen inzwischen beendet sein. Das Leben in der Region ist noch immer davon geprägt. Einschusslöcher in den Häusern, abgerissene und durch luxuriöse Neubauten ersetzte Quartiere, Checkpoints an allen Zufahrten, Beobachtungstürme alle paar Hundert Meter entlang der Landstraßen. Ağaoğlu sagt:

Einschusslöcher an einer Hauswand.

Der türkische Staat hat die kurdischen Gebiete besetzt.

Ein Beobachtungsturm der Korucu (“Dorfschützer”).

Begonnen habe dieser Krieg indes vor 2015, sondern mit dem arabischen Frühling ab 2010. Der Konflikt zwischen dem türkischen Staat und dem kurdischen Volk reicht indes bis zur Staatsgründung im Jahr 1923 zurück; nachdem das Osmanische Reich zerfallen war und die kurdischen Gebiete der Türkei, dem Iran, Irak und Syrien zugeordnet wurden, wo sie nun jeweils ethnische Minderheiten stellten. 2013 hatte unter Federführung der HDP ein Friedensprozess begonnen, der jedoch scheiterte und mit den ersten Städtekämpfen diese Art ab 2015 endete. Es war auch das Jahr, in dem die HDP in den kurdischen Gebieten beachtliche Wahlerfolge erzielte, im Juni türkeiweit die größten Stimmzuwächse verzeichnete (7,4%) und mit 13,1 Prozent als viertstärkste Kraft in das Parlament einzog.

Salih Kuday: Gewählt und abgesetzt

Salih Kuday

Salih Kuday wurde für die HDP 2019 gemeinsam mit Nilüfer Elik Yılmaz zum Co-Bürgermeister von Kiziltepe gewählt (70,20%). Seinen Beruf als Lehrer dürfe er bereits seit 2016 nicht mehr ausüben, sagt er. Nach dem gescheiterten Putschversuch und der anschließend Säuberungen sei er aus dem Dienst entfernt worden. Sein neues Mandat konnte er indes nicht ausfüllen. „Ich wurde durch einen Trustee ersetzt. Ich wurde rausgeschmissen“, erzählt er. Trustees (türkisch: Kayyum), das sind Treuhänder:innen, die von der Regierung eingesetzt werden etwa wegen unbelegten Korruptionsvorwürfen. Mehr als 90 der 102 gewählten HDP-Bürgermeister:innen ersetzte diese so unter andem nach den Wahlen 2016 durch gefolgsame Vertreter:innen. „Sie herrschen mit Angst“, sagt Kuday über die Regierung und erinnert: „Mehr als 100.000 Menschen haben ihren Job verloren.“ Eine Folge besagter Säuberungen. „Tausende Politiker:innen wurden verhaftet“, ergänzt Ağaoğlu und die erste Amtshandlung des Treuhänders sei gewesen, Frauenorganisationen zu verbieten und Frauen-Departements durch Männer zu ersetzen. Daran hätten auch Untersuchen und Berichte des Europäisches Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) nichts geändert.

Dabei wollten Kurd:innen lediglich einen Ort, an dem sie mit ihrer Sprache und Kultur leben könnten. Sie strebten keinen eigenen Nationalstaat an, betonen die HDP-Vertreter:innen. Sie sprechen von einem Demokratischen Konföderalismus, einer kommunalen Selbstverwaltung. So hatte sie 2005 der wegen Terrorismus inhaftierte PKK-Anführer Abdullah Öcalan einst formuliert, nachdem er vom Gedanken eines Nationalstaates abgerückt war. „Ohne Freiheit der Kurd:innen kann es keine Demokratie im Mittleren Osten geben“, betont die Co-Provinzvorsitzende.

Graffiti an einem Straßenrand in Mardin.

Kaum Beachtung durch die internationale Gemeinschaft

Von der internationalen Gemeinschaft fühlen sie sich bei ihrem Anliegen allerdings kaum unterstützt. Besuche europäischer Politiker:innen hätten meist die Hauptstadt Ankara zum Ziel Ziel. „Das ist auch ein Grund, wieso die Nachrichten die Welt nicht erreichen“, sagt Ağaoğlu. Selbst innerhalb der Türkei würden sie durch den staatlichen Einfluss auf die Medien häufig verschwiegen. „Wir wissen, dass die Türkei Waffen aus europäischen Ländern kauft, besonders aus Deutschland“, merkt Kuday an. Eben diese Waffen würde auch gegen die kurdische Minderheit in der Türkei eingesetzt. Deshalb trügen auch Deutschland und die anderen Länder, die Waffen lieferten, eine Mitverantwortung für Gewalt, Folter und Mord im Land.

Förderung durch die DGVN

Lena Reiner hat für diese Reise gemeinsam mit Rana Kerdieh – die bei Interviews übersetzt hat, die nicht auf Englisch möglich waren – ein Reisestipendium der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN) erhalten. Die Förderung wirkte sich nicht auf die Art der Berichterstattung aus, die Stipendiat:innen waren frei in der Wahl ihrer Gesprächspartner:innen und Themen.

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