Halberstadt in Sachsen-Anhalt hat in den vergangenen Jahren einige beachtliche Entwicklungen hingelegt. Akteur:innen aus der Gesellschaft beschreiben, wie das gelungen ist und wo sie noch Potenzial sehen.
Beim Spaziergang durch die Halberstädter Unterstadt fallen sie sofort ins Auge: Die gut erhaltenen und gepflegten Fassaden der Fachwerkhäuser. Bunt gestrichen, verziert, oft geben die Inschriften über dem Eingang weitere Kurzinformationen über das Bauwerk; umrahmt von Dom, Bischofspalast. Von einer Stadt, die in den vergangenen Jahrzehnten einen massiven Umbruch erlebt – und in großen Teilen gemeistert – hat, ist hier nur wenig zu sehen.
Als Oberbürgermeister, Mitglied des Stadtrates und des Kreistages für die Partei Die Linke hat Andreas Henke diese Entwicklungen seit der Deutschen Wiedervereinigung politisch begleitet und mitgeprägt. Heute blickt er auf eine Stadt, die im Jahr 2019 als einzige überdurchschnittlich wachsende Mittelstadt in Sachsen-Anhalt kategorisiert wurde. „Ich glaube, das war schon ein Ritterschlag. Das kann uns stolz machen“, sagt er. 2020 übergab er den Rathausschlüssel noch mit einem Haushaltsplus.
Für viele Menschen war das gleichbedeutend mit Arbeitslosigkeit, sozialer wie finanzieller Unsicherheit. Als Kind hat Andreas Gottschalt diese Entwicklungen selbst miterlebt. Für die Betroffenen habe das bedeutet: „Keine einzige Minute Ruhe im Kopf, sondern immer nur mit dem Hintergedanken, morgen kann es vorbei sein.“ Wenn er die Orte seiner Kindheit besuchen will, steht er heute vor verwilderten Wiesen – zahlreiche Plattenbau-Siedlungen sind inzwischen abgerissen.
In der Folge kämpfte Halberstadt wie viele Städte in Sachsen-Anhalt und den weiteren ostdeutschen Bundesländern mit Abwanderung. Selbst für den Erhalt der Straßenbahn kam es zu einer Kampfabstimmung. Gottschalt zog ebenfalls zunächst fort, um mehr zufällig als gewollt wieder zurückzukehren. Nach mehreren gescheiterten Anläufen hat Gottschalt mit „GastroHilft“ nun eine viel beachtete Initiative mitgegründet, mit der er sich für ein besseres Miteinander einsetzt: In einem losen Kollektiv Lebensmittel verteilt die Gruppe kostenlos und bedingungslos gerettete Lebensmittel, die Supermärkte und Gastronom:innen sonst weggeworfen hätten, und einmal täglich warme Mahlzeiten für eine Obdachlosenunterkunft kocht.
Als parteiloser Lokalpolitiker prangert Gottschalt in ruppigem Ton Missstände und Fehlentwicklungen an, kritisiert lautstark Aussagen anderer Politiker:innen oder Steuererhöhungen. „Mir geht es um die Menschen, denen das wehtut“, betont er. Doch begegneten ihm diese Missstände als gesetzlichen Betreuer, im Ehrenamt sowie privat tagtäglich. Hinzu komme eine wiederaufkeimende Menschenfeindlichkeit, die sich nicht nur gegen geflüchtete Menschen richte, sondern auch gegen anderweitig Zugezogene: „Dann sitzt du hier plötzlich und hast um dich herum AfD-Wähler als Freunde. Das ist krass.“
Trotz dieser besorgniserregenden Entwicklungen verkennt Gottschalt den allmählichen Aufschwung nicht. Ex-Oberbürgermeister Henke macht den vor allem an der wirtschaftlichen Entwicklung und der stark gestiegenen Beschäftigungsquote im vergangenen Jahrzehnt fest. „Die Politik der Verwaltung und des Stadtrates muss darauf ausgerichtet sein, bestmögliche Rahmenbedingungen zu schaffen für die Unternehmen“, gibt er das Credo vor. Mit einer guten Anbindung der Gewerbegebiete an die Fernstraßen und einem mittlerweile breit aufgestellten Mittelstand sei das gelungen. Hier sei über die Parteifarben hinweg stets gut zusammengearbeitet worden.
Doch auch an anderer Stelle sieht Henke die Fortschritte: Ein Drittel der Wohnungen ist in kommunaler Hand, kulturelle Einrichtungen wie ein Dreisparten-Theater sind über die Region hinaus bekannt und die Förderung für die Straßenbahn ist bis 2032 gesichert. Auch wenn er bei der Infrastruktur und den öffentlichen Verkehrsmitteln noch landesweit Verbesserungsbedarf sehe: Für solche kommunalen Anliegen wolle er sich künftig als neues Mitglied des Landtages in Sachsen-Anhalt verstärkt einsetzen.
Mit mehr als 80 Mitgliedern aus der Lokalwirtschaft verschafft sich in Halberstadt die Roland-Initiative Gehör und fördert soziale Projekte. „Bei uns ist es wichtig, dass die Unternehmer:innen vor Ort sich kennen und dass die Wertschöpfung eben vor Ort in der Region bleibt“, sagt Vereins-Präsidentin Katharina Neuber. Sie hat die wirtschaftliche Entwicklung der Region in einer Wirtschaftsförderung aus nächster Nähe beobachtet, Insolvenzen, Neuanfänge und Start-ups begleitet.
Zahlreiche Betriebe seien seit Jahrzehnten in der Region verwurzelt und legten durch die überschaubare Größe mehr Fokus auf Wohlfühl-Faktoren als manche Großkonzerne. Gerade für junge Menschen sei dieses Arbeitsumfeld zunehmend attraktiver als das höhere Gehalt andernorts. „Der Mittelstand ist echt gut aufgestellt“, bilanziert Neuber, die nun selbst ein Bekleidungsgeschäft mit ausgefeiltem Konzept in der Innenstadt eröffnen will. Derzeit arbeite die Roland-Initiative außerdem an einer Kooperationsvereinbarung mit der Stadtverwaltung, um langfristig gemeinsame Ziele zu definieren und Voraussetzungen für eine nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen.
Was dem Ehrenamtler und Lokalpolitiker Gottschalt in Halberstadt fehlt, sind weitere offene Angebote wie etwa „GastroHilft“. Jede:r könne mitmachen, neue Menschen kennenlernen, sich gemeinsam für etwas Gutes einsetzen. Seine Forderung: ein stärkerer Fokus auf die Sozialarbeit. Gottschalt sagt: „Wir brauchen hier auch mal Ideen, die vor allen Dingen unseren Kindern und Jugendlichen eine Welt eröffnen, die sie hier nicht erfahren können oder niemals erfahren werden. Manchmal auch aufgrund der Einkommensverhältnisse ihrer Eltern.“ Deshalb brauche es zudem mehr Netzwerk-Strukturen und Koordination.
Menschen für soziales Engagement begeistern – dem hat sich auch die Freiwilligen-Agentur Nordharz in Halberstadt seit fast 20 Jahren verschrieben. Mehr als 200 Aktive vermittelt und unterstützt sie in verschiedenen Bereichen, von der Seniorenbegleitung über den begleitenden Dienst bis hin zu Hausaufgabenbetreuung, Sprachunterricht und Unterstützung von Kultureinrichtungen. Zu Beginn der Coronavirus-Pandemie stellten die Koordinator:innen kurzfristig einen Einkaufsdienst auf die Beine und organisierten Fahrräder für den einfachen und umweltfreundlichen Transport.
Häufig engagierten sich Menschen, die keiner Haupterwerbstätigkeit nachgingen, also beispielsweise Arbeitslosengeld II oder eine Erwerbsunfähigkeitsrente erhielten, sagt Team-Leiterin Ina Blessinger. Gemeinsam werde dann nach individueller Fähigkeit eine passende ehrenamtliche Betätigung gesucht. Dabei profitiere die Freiwilligen-Agentur von der engen Anbindung an die Erwerbslosen-Beratung, aus der sie im Jahr 2002 hervorgegangen ist, und der ergänzenden Unabhängigen Teilhabeberatung (EUTB), die ebenfalls vom Diakonischen Werk getragen wird.
Über das freiwillige Engagement habe so manche:r dann auch wieder ein sozialversicherungspflichtiges Arbeitsverhältnis gefunden. Gleiches gelte für die rund 20 Bundesfreiwilligendienstleistenden im Diakonischen Werk Halberstadt, von denen in jedem Jahr zwei bis drei anschließend einen Arbeitsvertrag erhielten. „Da sind auch richtige Schicksale, die sich so ins Positive wenden“, sagt Isabell Koch, Bereichsleiterin für Beratung und Soziales. Gleichzeitig sei diese Freiwilligen-Arbeit in Halberstadt noch nicht so ausgeprägt verankert wie andernorts.
Ähnlich wie Gottschalt sehen auch sie noch größeres Potenzial beim gesellschaftlichen Engagement und wünschen sich hier mehr Unterstützung durch die Stadt wünschen. „Die Ideen gibt es schon“, sagt Blessinger und nennt als Beispiel Stadtteilzentren, an die eine Wohnungsberatung oder ein Café angebunden sein könnte. Doch diese Ideen aufzugreifen und voranzutreiben sei selbst im Verbund nur schwer zu schaffen. Zumal sich die Freiwilligen-Agentur Nordharz selbst nur aus Projektförderungen finanziere.
Als aufstrebendes Mittelzentrum ist Halberstadt also noch lange nicht am Ende der Entwicklung angelangt. Neue Impulse kommen aus allen Teilen der Gesellschaft. Der Ex-Oberbürgermeister und Neu-Landtagsabgeordnete Henke sieht seine Stadt gut aufgestellt:
Sie finden hier alles zum Einkaufen, soziale Fürsorge, Pflegeeinrichtungen, medizinische Versorgung. Wir haben hier in Halberstadt kein Hausarzt-Problem – also noch kein großes wie in anderen Städten oder ländlichen Räumen. Wir haben Kultureinrichtungen, Freizeit- und Sport-Zentren. Wir haben Museen, Theater und Kino. Also eigentlich ist alles da.
Oberbürgermeister in Halberstadt von 2007 bis 2020, seit 2021 Landtagsabgeordneter
Auch die malerische Fachwerk-Kulisse dürfte der Stadt noch lange erhalten bleiben.
Beitrag veröffentlicht am Juli 6, 2021
Zuletzt bearbeitet am Juli 6, 2021
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