Nach zwei Jahren Krieg in der Ukraine wird deutlich: Waffenlieferungen allein reichen nicht aus. Warum die Verbündeten ihr Engagement ausweiten müssen – und eine militärische Intervention zum Frieden führen könnte. Ein Kommentar.
Zwei Jahre. Und die Ungewissheiten bleiben. Wie ein Fußballspiel haben wir, die sich die Verbündeten der Ukraine nennen, das Geschehen aus sicherer Entfernung verfolgt: An den Bildschirmen haben wir um Kyjiw gebangt, um Mariupol getrauert. Die Rückeroberungen bei Charkiw und Cherson gefeiert, bei den Belagerungen von Sjewjerodonezk, Bachmut oder jüngst Awdijiwka die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. Und all die Hoffnungen, die wir in die Gegenoffensive vor allem an der Südfront bei Saporischschja gesetzt haben, sind an den russischen Verteidigungslinien zerschellt.
Doch was ist die Konsequenz daraus, wenn die Ukraine nach den nächsten Schlachten voraussichtlich um Kupjansk und Kramatorsk/Slovjansk nicht noch mehr Land und Menschen verlieren soll?
Wir müssen uns ehrlich machen.
Weder EU, NATO oder die USA haben diesen Krieg gewollt – und am wenigsten die Ukraine. Dennoch hat Putin ihn entfacht, nachdem die Invasion 2014 noch ohne ernstzunehmende internationale Reaktionen verlaufen war. Trotz aller Solidaritätsbekundungen lassen wir ukrainische Soldat:innen an der Front im Stich. Das Versprechen der EU, eine Million Schuss bis März 2024 zu liefern? Krachend gescheitert. Analyst:innen schätzen das Verhältnis bei der Artillerie auf 1:5 bis 1:6. Gegen ein Trommelfeuer von 10.000 Granaten täglich kann sich die Ukraine also mit maximal 2000 verteidigen. Verteidigen? Tod auf Raten trifft es eher.
Angefangen von Flugverbotszone über die Debatten um den deutschen Gerätezoo – Marder, Leopard, Taurus – bis hin zum noch dringenden benötigten Nachschub: Was die ukrainische Armee gebraucht hätte, hat sie zuverlässig nicht bekommen. Von einer Augenhöhe in der Luft, Stichwort F-16 oder F-35, wagt die Armee nicht einmal zu träumen. Nun kommt die amerikanische Blockadehaltung hinzu, während zumindest die deutsche Bundesregierung ihre Bemühungen um eine internationale Allianz intensiviert.
Unterdessen schafft der Kreml Fakten.
Während Politik und Gesellschaften debattieren, pumpt Russland ein Drittel des Staatshaushalts in sein Militär. Putin setzt auf Kriegswirtschaft. Mehr als 100 Milliarden Euro investiert er allein in diesem Jahr in den Krieg. Das entspräche mehr als 20 Prozent des deutschen Haushaltsvolumens.
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Wenn die Frage wirklich drängt, wie dieser Krieg beendet werden kann, müssen wir über neue Wege nachdenken. Knackpunkt ist nicht, die Ukraine an den Verhandlungstisch zu zwingen. Dafür haben ihre Verbündeten alle Hebel in der Hand1Für ein angebliches Drängen wahlweise Großbritanniens oder der USA, den Krieg fortzusetzen, gibt es keine Belege. Fakt ist: Die anfänglichen Gespräche in Istanbul wurden nach dem Völkermord in Butscha
abgebrochen. Sämtliche Angebote für Zugeständnisse davor hat Berichten zufolge Russland abgelehnt..
Vielmehr muss eine ernsthafte Drohkulisse gegenüber Russland aufgebaut werden, die eine Verhandlung attraktiver erscheinen lässt als eine Lösung auf dem Schlachtfeld. Zugegeben: Die folgende Skizze ist angesichts der politischen Stimmungen und Konstellationen unrealistisch. Dennoch lohnt es sich meiner Meinung nach, zumindest darüber zu diskutieren, um den Fokus neu zu setzen:
Ja, das würde in letzter Konsequenz einen aktiven Kriegseintritt bedeuten. Doch was ist die Alternative? Analyst:innen sind sich einig, dass der Krieg in fünf bis acht Jahren auch zu uns kommen könnte. Wollen wir wirklich warten, bis Russland sich so weit hochgerüstet hat, um eine weitere Expansion anzustreben? Früher oder später werden wir uns mit einem realen Kriegsszenario für die Bundeswehr und die verbündeten Armeen auseinandersetzen müssen. Suchen wir lieber eine Entscheidung für die Ukraine, während das russische Militär stark geschwächt ist und sich Deutschland noch halbwegs auf seine Verbündeten verlassen kann.
Ohne Belege anführen zu können, bin ich der Überzeugung, dass Putin nach einem ähnlichen Schema seine Invasion in der Ukraine geplant hat: Die Blamage Europas und der USA in Afghanistan mit dem desaströsen Abzug aus Kabul und der Rückzug aus dem internationalen Parkett haben den Größenwahnsinn im Kreml beflügelt. Zudem konnte er zuvor jahrelang in Syrien unterstützt vom dort regierenden Diktator Militärtaktiken ausprobieren4Erinnert sei an Obamas berühmte rote Linien und die im Stich gelassene, kurdische YPG. Auch das hat der Glaubwürdigkeit der USA und ihrer Verbündeten geschadet. Putin hat durchaus Anhaltspunkte für die ihm zugesprochene These, dass „die Angelsachsen“ langfristig auch die Ukraine hängen lassen würden. . Während Deutschland, Großbritannien, Frankreich oder die USA ihre Wunden leckten und sich in russischer Lesart als „schwach“ darstellten, marschierte Putin auf
Nehmen wir das Alternativszenario. Die Ukraine fällt. Das muss nicht einmal bedeuten, dass russische Panzer bis Lwiw vorrücken. Ein Kollaps des zermürbten Militärs, eine Kapitulation der Regierung reicht dafür aus. 6,5 Millionen Ukrainer:innen haben das Land bereits verlassen, 14,6 Millionen – 40 Prozent der Bevölkerung – sind aktuell auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Schätzung der Bundesregierung, dass rund zehn Millionen Menschen das Land verlassen würden, scheint daher fast untertrieben. Die Zerreißprobe, die die Aufnahme von auch nur zwei weiteren Millionen Ukrainer:innen, für unsere Gesellschaft (und die Haushaltsdebatten) bedeuten würde, bedarf keiner weiteren Erklärung.
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Andernorts handeln die transatlantischen Partner deutlich entschiedener. Ironischerweise verabschiedete Verteidigungsminister Boris Pistorius erst in dieser Woche die Fregatte „Hessen“ in Richtung Rotes Meer verabschiedet, um die zivile Schifffahrt vor Angriffen der Huthi-Miliz zu schützen. Dabei geht es hier fast ausschließlich um wirtschaftliche Interessen, viele Schiffe könnten auf die zeitaufwändigere und teurere Route um das Kap der Guten Hoffnung ausweichen. Dabei riskieren wir hier eine indirekte Konfrontation mit dem Iran, einem Verbündeten Russlands. Wieso schützen wir die Ukrainer:innen nicht ebenso aktiv vor Raketenangriffen? Unsere Sicherheitsinteressen am Dnipro sind deutlich gravierender als hinter dem Suezkanal.
Erinnern wir uns an ein Positivbeispiel aus der Geschichte: die Operation Delibarate Force 1995 in Bosnien und Herzegowina. Zugespitzt formuliert beendete die NATO die mehr als dreijährige Belagerung Sarajevos, indem sie die bosnisch-serbischen Truppen von den Hügeln bombte – mit Mandat der Vereinten Nationen5Ich führe bewusst nicht die Operation Allied Force 1999 an. Ebenso wenig wie Belgrad hätte bombardiert werden sollen, soll das nun mit Moskau geschehen. Auch wenn der Einsatz zu einem strategisch positiven Ergebnis führte, war er völkerrechtswidrig und vermeidbar.. Angesichts der Vetomächte Russland und China ist dies für die Ukraine zwar unrealistisch. Als deren Verbündete wäre ein solches Vorgehen in Bachmut, Awdijiwka oder Kupjansk dennoch völkerrechtskonform und aus meiner Sicht das effektivste Mittel, um ein Ende des Krieges herbeizuführen. Der „kühle Stratege“ Putin wird deshalb wohl kaum die nukleare Karte spielen (aber womöglich androhen).
Zehn Tage vor Beginn des Großangriffs habe ich 2022 einen Kommentar für das ukrainische Portal USI online verfasst. Zuvor bin ich mit einem ukrainischen Kollegen und einer deutschen Kollegin die damalige Kontaktlinie von Charkiw über Milowe bis nach Cherson und Odesa abgefahren. „Wir lassen die Ukraine im Stich“ habe ich damals formuliert, ohne nach den vielen beschwichtigenden Gesprächen mit Ukrainer:innen selbst vollends davon überzeugt zu sein, dass dieser Krieg eskalieren. Die NATO lasse die Ukrainer:innen für das Versprechen sterben, vielleicht eines Tages Mitglied werden und den Schutz des Bündnisses genießen zu können, schrieb ich damals. Leider hat sich das bewahrheitet. Mit dem Zusatz, dass sie nun für „unsere Freiheit“ oder die „europäische Nachkriegsordnung“ sterben.
Wir brauchen mehr als nur eine Zeitenwende. Wir brauchen einen stabilen, gerechten Frieden. Auch wenn er seinen Preis hat. Im besten Fall reicht die Drohung der Intervention, um die Kämpfe einzustellen. Nur wenn unserer Politiker:innen Putin zwingen, den Krieg zu beenden, ist das Überleben der Ukraine gesichert und unsere Sicherheit in Zukunft gewährleistet. Davon profitiert Russland auf lange Sicht genauso.
Teaserfoto: Lena Reiner
Beitrag veröffentlicht am Februar 24, 2024
Zuletzt bearbeitet am Februar 24, 2024
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