17 Aktivist:innen, darunter ein deutsch-israelischer Jude, treten in Bremen für 48 Stunden in den Hungerstreik. Sie wollen auf das Leid der Menschen in Gaza aufmerksam machen.
Sie leiden, um die Aufmerksamkeit auf das Leid anderer zu lenken. 17 Aktivist:innen campieren Mitte August auf dem Ansgarikirchhof in der Bremer Innenstadt und beteiligen sich an einem 48-stündigen Hungerstreik. Die Mahnwache der „Seeds of Palestine“ in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Nahost Bremen und dem Bremer Friedensforum steht unter dem Motto „Hungern gegen das Aushungern“. Der Ohnmacht wollen sie Taten gegenüberstellen. Die Vereinten Nationen (UN) warnen, dass 100 Prozent der rund 2,1 Millionen Einwohner:innen von Gaza durch den israelischen Einmarsch von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind. 90 Prozent sind binnenvertrieben, 20.000 Kinder wurden Ende Juli wegen akuter Mangelernährung behandelt, 16 Tote zählen die UN aus diesem Grund.
Den Hungerstreikenden in Bremen schließt sich unter anderem David Ginati an. Der deutsch-israelische Jude befindet sich bereits seit mehr als 60 Tagen im Hungerstreik. Mit seiner Organisation Satyam (Sanskrit für Wahrheit/Einheit) setzt sich der Trainer für gewaltfreie Kommunikation seit 14 Jahren für eine Verständigung zwischen Palästinenser:innen und Israelis ein, betrieb im besetzten Westjordanland zwischenzeitlich ein Friedens- und Begegnungszentrum. Bis der politische Druck 2018 zu groß geworden sei, wie er sagt. Infolge des Massakers der Hamas am 7. Oktober 2023 eröffnete Satyam ein neues Zentrum für Israel und die Westbank.
Die Fakten liegen vor, und sie sind unbestreitbar: Die Palästinenser im Gazastreifen erleben eine humanitäre Katastrophe epischen Ausmaßes. Dies ist keine Warnung. Es ist die Realität, die sich vor unseren Augen abspielt.
UN-Generalsekretär António Guterres
Ginati spricht zunächst mit ruhiger, fester Stimme. Doch nach nur wenigen Minuten, als seine Rede emotionaler wird, wird sie zunehmend zittriger – wie sein gesamter Körper. Nur wenige Tage zuvor sei er ins Krankenhaus gekommen, weil sein Herz zu schwach geworden sei. „Seitdem nehme ich gerade genug Nahrung zu mir, um zu überleben“, sagt er und schiebt hinterher: „Eine Wahl, die die Menschen in Gaza nicht haben.“ Der seit Juni andauernde Satyam-Hungerstreik trägt den Titel „Their Hunger is ours. Until Gaza eats, we won’t.“ (Ihr Hunger ist unserer. Wir werden nichts essen, bis Gaza es auch kann.)
Er und seine Mitstreiter:innen stünden für die Befreiung von allen gewaltvollen Systemen, der Unterdrückung und Diskriminierung. „Wir benennen jede Form der Entmenschlichung:
An seine „israelischen Geschwister“ appelliert Ginati, bei allem Schmerz, den der 7. Oktober verursacht, bei allen Erinnerungen und Traumata, die er wachgerufen hat, die Menschlichkeit zu bewahren. Teile der israelischen Gesellschaft entwickelten sich zu dem, was sie am meisten fürchteten: „Zerstörung, Vertreibung, Unterdrückung, Vernichtung.“ Das müsse gestoppt werden.
Bei der Mahnwache scheint zunächst eine Kontroverse aufzukommen, als Ginati zu seinen „palästinensischen Geschwistern“ spricht. Dabei drückt der Deutsch-Israeli unmissverständlich seine Solidarität aus. Er verurteilt die Nakba1Die Vertreibung der Palästinenser:innen während des Krieges rund um die Staatsgründung Israels. ebenso wie die jahrzehntelange Zerstörung, Vertreibung und Unterdrückung. Die Tatenlosigkeit der Weltgemeinschaft. „Es schmerzt mich zutiefst, was meine Gesellschaft euch antut“, sagt Ginati. Seine Freiheit dürfe nicht auf Kosten ihrer fußen: „Solange ihr nicht frei seid, bin ich es auch nicht.“
Es handelt sich um eine Hungersnot, die von einigen israelischen Führern offen als Kriegswaffe propagiert wird.
Tom Fletcher, Untergeneralsekretär für humanitäre Angelegenheiten und Nothilfekoordinator
Dann richtet Ginati einen Appell an die Aktivist:innen, der später zu einer Kontroverse führen wird. „Könnt ihr auch den Schmerz und das Trauma der Israelis sehen?“, fragt er zunächst: „Könnt ihr die Gewalt am 7. Oktober klar verurteilen – Morde, Vergewaltigung, Geiselnahmen – und sagen: Nicht in meinem Namen!“ Plötzlich ein Zwischenruf: „Es gab keine Vergewaltigung.“
In Verbindung mit einem zuvor erschienenen Fernsehbeitrag klingt das für Außenstehende zunächst nach einer Verharmlosung der Gewalt durch die Terrororganisation Hamas. In einem längeren Austausch im Anschluss zeigt sich dann jedoch die eigentliche Ursache für diesen Disput.
Da ist zum einen der komplexe Informationsraum mit Propaganda und Falschinformationen. Präsent sind bei den Aktivist:innen vor allem die Berichte über widerlegte Vergewaltigungen. Das UN-Büro des Sonderbeauftragten des Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten (OSRSG-SVC) bestätigt solche Fälle in seinem Jahresbericht. In einer umfassenden Untersuchung des 7. Oktober kommt das Büro allerdings zu dem Schluss, dass es „hinreichende Gründe für die Annahme“ gebe, dass es an mehreren Orten zu sexueller Gewalt und Vergewaltigungen kam; ebenso wie sexuelle Gewalt gegen Geiseln. Von Report vor Ort auf diese Erkenntnisse angesprochen, zeigen sich die Aktivist:innen sichtlich erschüttert, ziehen sie nicht in Zweifel. Sie kannten solche ernst zu nehmenden Berichte aus glaubwürdigen Quellen offenbar zuvor schlicht nicht.
Der UN-Bericht geht indes noch weiter, und betrachtet auch Israels militärisches Vorgehen in Gaza in Hinblick auf sexuelle Gewalt – und wird in der Wortwahl noch deutlicher: „Die Vereinten Nationen bestätigten zwölf Fälle konfliktbezogener sexueller Gewalt durch israelische Streit- und Sicherheitskräfte.“ Hinzu kommen Fälle in Gaza, in denen palästinensische Männer, Frauen und Kinder über längere Zeiträume zur Nacktheit gezwungen wurden und sich sogar nackt in der Öffentlichkeit bewegen mussten. In zehn dieser Fälle wurden die Opfer von israelischen Streit- und Sicherheitskräften gefilmt oder fotografiert. “Angesichts des fehlenden Zugangs zu Haftanstalten sollten die von den Vereinten Nationen überprüften Fälle eher als Indikator denn als umfassende Beispiele betrachtet werden”, so die Autor:innen.
Die israelischen Streit- und Sicherheitskräfte haben Tausende palästinensische Männer, Frauen und Kinder festgenommen und inhaftiert, wobei sich die Haftbedingungen dramatisch verschlechtert haben.
Bericht des UN-Generalsekretärs an den Sicherheitsrat, Juli 2025
Dazu gibt es auch einen eigenen Bericht des Menschenrechtsrats. Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Save the Children haben solche Menschenrechtsverletzungen schon lange vor dem 7. Oktober beklagt. Sie erhielten allerdings deutlich weniger Aufmerksamkeit als die durch die Hamas verursachten Gräueltaten. „Ich lebe damit seit 40 Jahren“, sagt eine Aktivistin über die fortwährenden Berichte von Gewalt und Unterdrückung gegen die palästinensische Bevölkerung. Bei einem Besuch in Israel habe sie diese „Apartheid“ selbst erlebt.
Der Unmut der Aktivist:innen richtet sich deshalb vor allem gegen die einseitige Betrachtung. „Wir wollen Gerechtigkeit für alle“, betont die Aktivistin im Gespräch immer wieder. Der Hunger in Gaza sei aktuell, akut, und das Leid könne mit einem stärkeren Engagement der internationalen Gemeinschaft gelindert werden. Dafür gingen die Aktivist:innen auf die Straße, litten nun selbst beim Hungerstreik. Wieso wird immer wieder von ihnen verlangt, auf das Leid der Israelis am 7. Oktober einzugehen? Wieso müssen sie sich vom Massaker einer Terrorgruppe distanzieren, das sie nie unterstützt haben? Wieso müssen beide Gräuel gleichwertig erwähnt werden, wenn die Relationen gänzlich verschieden sind?
Zumal eine gewählte israelische Regierung, teilweise ebenso per internationalem Haftbefehl gesucht wie die Hamas-Köpfe, mehr gesellschaftliche Repräsentanz ausdrückt als eine ungewählte Terrorgruppe. Entmenschlichende Aussagen, Fantasien von Vertreibung oder der Auslöschung palästinensischer Dörfer, etwa durch die israelischen Minister Ben-Gvir und Smotrich, sind aktuell deutlich präsenter als israelfeindliche Stellungnahmen der Gegenseite. „Weißes Blut zählt mehr als das der Araber:innen“, so der Eindruck der Aktivst:innen.
Gewiss: Im sensiblen Umfeld der ebenso emotionalen wie polarisierten öffentlichen Debatte rund um den Nahostkonflikt und im Kontext der besonderen Beziehung zwischen Deutschland und Israel wären die Aktivist:innen gut beraten, sich sichtbar von der Hamas und dem Massaker am 7. Oktober zu distanzieren. Die Wirkung ihrer Worte sorgfältiger zu betrachten. Ein Ende der Bombardierungen im gleichen Atemzug mit der Freilassung der Geiseln zu fordern. Doch der Fokus auf das aktuelle Leid der Menschen in Gaza ist nicht gleichzusetzen mit der Unterstützung von Terroristen, mit Antisemitismus oder Judenhass; der sich bei anderen Demonstrationen durchaus schon gezeigt hat. So erklärt sich auch, warum Ginatis‘ nachvollziehbare Aufforderung vor Ort stellenweise auf Entrüstung stößt. Es sind zwei Perspektiven in einem heterogenen Umfeld; beide auf ihre Weise verständlich.
Ich bin besonders besorgt über die jüngsten Versuche einiger israelischer politischer Akteure, sich in laufende Justizprozesse einzumischen und/oder den Einsatz dieser Methoden zu rechtfertigen. Sexuelle Gewalt und sexualisierte Folter in Haftanstalten dürfen niemals normalisiert werden. Straflosigkeit ermutigt Täter:innen, bringt Opfer zum Schweigen und untergräbt die Aussichten auf Frieden. Täter:innen solcher abscheulichen Verbrechen müssen zur Rechenschaft gezogen und Gerechtigkeit geschaffen werden.
Pramila Patten, Sonderbeauftragte des Generalsekretärs für sexuelle Gewalt in Konflikten (SRSG-SVC)
Trotz solcher Verstimmungen zeigt sich in Bremen, dass die Stimmung deutlich weniger aufgeladen ist als andernorts. Dabei ist die Kulisse am Bremer Ansgarikirchhof für sich schon kontrastreich. Während Ginati spricht, er und seine Mitstreiter:innen in Zelten hinter dem Stand mit Palästina-Flaggen 48 Stunden hungern, spielen Eltern mit ihren Kindern am stationären Riesenschachbrett und den zwei Sandkästen. Genauso wie manche spontan stoppende:r Passant:in hören sie zu, suchen interessiert das Gespräch. Zwischendurch kommen auch zwei Polizisten, unterhalten sich mit einer Mitorganisatorin. Die Stimmung ist sichtlich entspannt.
Auf den Zwischenruf reagiert der Redner indes nicht, sondern fährt fort – ohne weitere Unterbrechung. Zum Abschluss richtet er noch einen Appell an seine „deutschen Geschwister“, hinter die sich alle Aktivist:innen stellen können. Ginati spricht von Angst, Scham, Schuld: „Ich kenne das schwere Laster eurer Geschichte.“ Doch dürfe Deutschland nicht länger schweigend zusehen. „Es ist keine Selbstverteidigung, was passiert. Wir brauchen euch“, sagt der Deutsch-Israeli. Es gehe nicht darum, eine Seite zu dämonisieren. Das Leiden müsse enden: „Für mich als Jude bedeutet nie wieder nie wieder. Für niemanden. Und das sollte es für euch auch.“ 80 Jahre nach der Shoah seien Deutschland und Europa das beste Beispiel, dass Zusammenhalt, Frieden und Menschlichkeit möglich seien.
Beitrag veröffentlicht am August 25, 2025
Zuletzt bearbeitet am August 25, 2025
[mc4wp_form id=239488]
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.