Anas al Mustafa ist gegen seinen Willen von der Türkei nach Syrien abgeschoben worden. Inzwischen ist er wieder nach Konya zurückgekehrt und kämpft um sein Bleiberecht.
Anas al Mustafa geht nicht unbedingt schnell, aber zügig durch Konya und weiß ganz genau, welche Straßen und Orte er meiden möchte. Obwohl viele in der Öffentlichkeit keine Masken tragen, bittet er darum – um keine Aufmerksamkeit der Polizei auf sich zu ziehen. Auch wenn er redet, behält er die Umgebung im Blick. Außerhalb der Gegend, die er meiden möchte, lässt er sich dann Zeit, um Sehenswürdigkeiten zu erklären. Eigentlich will er das Interview in einem arabischen Restaurant führen. Doch kurzfristig entscheidet er sich um. Dort seien Geheimdienste verschiedener Länder, sagt er. Es sei nicht sicher, wenn man offen spricht.
Der 41-Jährige muss generell auf der Hut sein. Zwar läuft derzeit ein Verfahren am Verwaltungsgericht, währenddessen er offiziell nicht abgeschoben werden kann, aber auf die Theorie ist hier kein Verlass. Das hat al Mustafa bereits am eigenen Leib erfahren, als er zunächst grundlos verhaftet, dann sieben Tage lang festgehalten und schließlich nach Syrien abgeschoben wurde. Dem Land, aus dem er einst vor Krieg und Gewalt geflohen war.
Aktuell lebt al Mustafa an einem Ort, den nicht einmal sein Anwalt kennen darf. Eine offizielle Anschrift hat er nicht. Freunde zahlen seine Unterkunft, eigenes Geld darf er derzeit nicht verdienen. Er kann kaum schlafen, hat immer Angst, dass die Polizei wieder vor seiner Tür steht. Manchmal, erzählt er, traut er sich tagelang nicht heraus. Läuft tagelang in seinen vier Wänden hin und her, versunken in Gedanken und seinen Sorgen.
Der Grund für seine Strapazen liegt in seinem rechtlichen Status: Offiziell lebt er derzeit nicht in Konya auf. Offiziell lebt er noch immer in Syrien. Offiziell ist er freiwillig zurückgekehrt. Doch der Reihe nach.
Es ist der 15. Mai 2020, Ramadan, Fastenzeit. Als die Polizei an al Mustafas Türe klopft, denkt er zunächst, es sollte sein schönster Tag werden. „Sie haben freundlich nach meinem Namen gefragt. Sie haben nach meinem Kimlik [Personalausweis] gefragt“, erzählt er. Zu der Zeit läuft sein Verfahren für die Einbürgerung, er solle nur kurz mit zum Migrationsamt mitgehen, um ein paar Fragen zu beantworten. „Ich war so glücklich“, sagt er noch immer mit einem Funkeln in den Augen. Er zieht sich extra noch ein pinkes T-Shirt und weiße Hosen an; im arabischen ein modischer Ausdruck für einen guten Tag.
Doch zum Migrationsamt bringt ihn die Polizei nicht: „Plötzlich haben sie mich ins Gefängnis gebracht. Sie haben mir alle meine persönlichen Gegenstände abgenommen, Telefon, Geld, alles.“ Niemand spricht mit ihm. In der Zelle trifft er fünf weitere Syrer, sie trifft das gleiche Schicksal, die gleiche Unsicherheit. „Einer ist sogar ein Auto und ist damit zum Gefängnis gefahren“, erzählt al Mustafa.
Sieben Tage später, am 22. Mai 2020 findet sich al Mustafa in Idlib wieder. Zwei Tage zuvor sei er gezwungen worden, seine freiwillige Rückkehr zu unterschreiben. „Weißt du, was sie gesagt haben?“, fragt er und gibt auch gleich die Antwort: „Dass ich am 15. Mai freiwillig in mein Land zurückgekehrt bin. Ich habe es am 20. Mai unterschrieben.“
Die Stadt steht unter Kontrolle der Terrororganisation Haiʾat Tahrir asch-Scham (HTS). Er muss zunächst ins Isolations-Zentrum – die Pandemie ist auch in Syrien angekommen. „Ich hatte wirklich Angst um meine Sicherheit“, sagt al Mustafa. Im Anschluss hält er sich in Idlib versteckt. „Ich bin nicht nach draußen gegangen. Ich stand in Kontakt mit allen meinen Freunden in der ganzen Welt“, sagt er. Fünf Monate später fasst er die Entscheidung, in die Türkei zurückzukehren. Ein Schmuggler bietet ihm für 1500 Euro die Grenzüberquerung an. 30 Stunden Fußweg. Ohne Essen, ohne Trinken. Mitten durch die gefährlichen Berge.
Anas al Mustafa überquert nach 30 Stunden Fußweg die türkische Grenze.
Zuerst erreicht al Mustafa Antakya, anschließend kommt er für eine Nacht bei einem Freund in Reyhanli. Dann kehrt er zurück in seine Wohnung nach Konya. Zwei Monate später fragt die Polizei in der Nachbarschaft, ob er zurück ist. Am 30. Dezember klopfen Polizist:innen um fünf Uhr morgens erneut an seiner Tür. „Ich habe meine Anwältin angerufen und sie sagte: Öffne die Tür nicht. Sie wollen dich erneut verhaften“, schildert er die Situation. Nun, da er sich illegal im Land aufhält, hätten sie einen Grund, ihn erneut abzuschieben. An diesem Tag verlässt er seine Wohnung und taucht unter. Aus Angst, selbst Probleme zu bekommen, meiden nun auch Freunde und Verwandte den Kontakt zu ihm. „Vorher war mein Telefon wie eine Zentrale, ich habe Nachrichten und Anrufe im Minutentakt bekommen“, sagt al Mustafa.
Bis zu seiner Abschiebung 2020 ist al Mustafa als humanitärer Helfer in Konya aktiv. Als er 2016 ankommt, verdient er sich zunächst Geld, indem er mit einem Freund Internetanschlüsse einrichtet. Dann arbeitet er bei einer humanitären Organisation, die aus ihm nicht bekannten geschlossen wird. In dieser Zeit baut er sich auch sein internationales Netzwerk auf. Freund:innen ermutigen ihn nun, die Familien weiter zu unterstützen. „Erst 20, dann 50, dann 100, 170, 175“, zählt al Mustafa auf. Viele verwitwete Frauen habe er unterstützt, 400 (Halb-)Waisen. Mit Lebensmittelkörben oder mal bei der Miete.
All das ist jetzt nicht mehr möglich. „Jetzt fühle ich mich wie etwas ohne Wert. Warum wollen sie diesen Wert von mir als Mensch nehmen?“, fragt er sich. Nie habe er sich politisch betätigt oder auch nur ein schlechtes Wort über die Türkei verloren. „Als ich in die Türkei gekommen bin, haben uns die Leute willkommen geheißen. Ich kann das nicht vergessen, ich weiß das.“ Nun werde er jedoch wie nichts behandelt.
Nach dem eigentlichen Interview kommt al Mustafa kaum mehr aus seinen Gedanken heraus. Immer wieder wiederholt er das Unrecht, das ihm angetan wurde. Er versteht es nicht. Später wird er erstmals Fremden seinen Unterschlupf zeigen und auch eine Herberge anbieten. Obwohl er müde und ausgelaugt ist, findet er keine Ruhe. „Ich kämpfe nicht nur für mich. Ich kämpfe für alle Menschen, denen Unrecht geschieht“, sagt er. Immer wieder erzählt er von den anderen, die mit ihm zusammen abgeschoben wurden und jenen, von denen er weiß, dass sie dasselbe Schicksal erlitten haben: “Manche von ihnen hatten Familie, Frau und Kinder, von denen sie dabei getrennt wurden!” Er stellt sich den Stuhl ans Fenster, ein Bein angewinkelt, das andere auf die Heizung abgelegt. Raucht, schüttelt gelegentlich den Kopf. Er starrt nach draußen in die Dunkelheit, mit leeren Augen in die Leere der Nacht.
Beitrag veröffentlicht am November 7, 2021
Zuletzt bearbeitet am November 7, 2021
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