Die Videos zu #allesdichtmachen weisen Parallelen zum Konzept der "schwarzen Wahrheit" auf. Die Schauspieler:innen sollten nicht zu leicht aus der Verantwortung genommen werden.
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Ich denke, wir machen es (uns) allen zu einfach, wenn wir die Macher:innen der Videos zu #allesdichtmachen aus der Verantwortung entlassen, indem wir sie als naiv oder gar dumm bezeichnen.
Letzteres, also die Entschuldigung einer Handlung durch das Absprechen seiner Intelligenz, finde ich übrigens auch keine sonderlich feine Art. Sie kombiniert Abwertung und Aufwertung auf eine besonders perfide Art und Weise.
Aber zurück zum Thema: Wir sprechen hier von Menschen, die – mehr oder weniger – in der Öffentlichkeit stehen, irgendwas mit Medien machen und sich mit sozialen Medien auskennen. Wir sprechen von Menschen, die die nötige Infrastruktur und Bildung besitzen, um sich umfassend zu informieren. Ich denke daher, dass wir von ihnen erwarten sollten, dass sie sich informieren, wessen Vokabular sie mit #allesdichtmachen benutzen und wessen Bewegung sie da unterstützen.
Ich denke nicht, dass man solche Videos mit Naivität erklären kann, dazu sind sie (teilweise) viel zu bösartig. Viele wundern sich, was an den Videos ironisch oder satirisch sein soll und sprechen von „schlechter Satire“ oder verknoten sich anderweitig in Begrifflichkeiten. Und genau dazu möchte ich etwas sagen.
Auf einer querdenkennahen Veranstaltung vor einigen Monaten in meinem Wohnort Friedrichshafen habe ich den Begriff der schwarzen Wahrheit kennengelernt. Wenn man den Begriff in eine Suchmaschine eingibt, erhält man schnell die Erklärung, was hinter dem Konzept steckt. Da sich die beste Erklärung auf einer eher fragwürdigen Webseite – dem 2020 von Stefan Korinth, Paul Schreyer und Ulrich Teusch gegründetem multipolar Magazin (die drei arbeiten sonst für Medien wie rubikon oder Ken FM, die für die Verbreitung von Verschwörungsmythen bekannt sind) – befindet, möchte ich diese nicht verlinken. Kurz gefasst geht es bei schwarzer Wahrheit darum, etwas so sehr zu übertreiben, dass es komplett ad absurdum geführt wird… oder, um den österreichischen Philosophen Robert Pfaller zu zitieren, auf den sich auch die anderen Quellen beziehen:
Das, was die schwarze Wahrheit sagt, wird gerade dadurch, dass sie es sagt, unmöglich gemacht.
Bezogen auf den Protest gegen die Coronamaßnahmen rät besagte fragwürdige Quelle zur „Objektzerstörung durch vollständige Bejahung“: „(…)Was bedeutet das für die aktuellen Demos gegen den Corona-Ausnahmezustand? Um in der großen Breite wirksam zu werden, dürfen die Proteste nicht die Maßnahmen kritisieren – das ist es, was alle erwarten –, sondern sie müssen die Maßnahmen ekstatisch bejahen. Das widerspricht dem herkömmlichen Diskurs vollkommen. Die Demonstranten müssen Regierung, Polizei, Medien und Gegendemonstranten auf deren eigenem Gebiet noch weit übertreffen. Ihre Forderungen müssen viel härter sein, absurd härter. Und das muss auch sichtbar werden. Die grundsätzliche Logik lautet: Die Polizei fordert Masken? Okay, können sie haben! Alle Demonstranten tragen schwarze Masken. Nicht nur im Laufen, nein auch im Sitzen. Die ganze Zeit. Wenn wir vor Gericht dagegen klagen, dann weil die Auflagen der Polizei viel zu lasch sind. Wir klagen für härtere Auflagen. Wir sind noch viel extremer als die Gegenseite und spiegeln damit ihren Extremismus. Die Regierung fordert Masken beim Einkaufen? Wir fordern Masken beim Essen! Sie fordern Masken an der frischen Luft? Lächerlich! Wir fordern Masken auch im Bett! (…)“
Das Interessante ist, dass das multipolar Magazin nicht nur die #allesdichtmachen-Aktion auf ihrer Webseite unter „aktuelle Empfehlungen“ sehr ausführlich aufführt, sondern sich außerdem als Erfinder der „schwarze Wahrheit“-Aktionen präsentiert. Ich zitiere aus dem Text „Einen Nerv getroffen“, der rund vier Monate nach dem generellen Artikel über die Methodik veröffentlicht wurde: „(…)Der Artikel stieß auf großes Leserinteresse und löste zahlreiche kreative Protestaktionen in Deutschland und einigen Nachbarländern aus. (…)“
Durch die Parallelen zwischen den Videos und der „schwarzen Wahrheit“ – durch Methodik und Grundaussagen – kann ich einfach nicht glauben, dass #allesdichtmachen besonders naive und positive Ziele verfolgen will oder wollte. Allen, die tatsächlich unwissentlich in diesen Kontext hineingeschliddert sind, kann ich nur sehr ans Herz legen: Erst #recherchieren und #nachdenken, dann handeln. Ähnliche Worte haben übrigens auch ein paar wenige etwas selbstkritischere Schauspieler:innen gefunden, die sich inzwischen öffentlich entschuldigt und ihre Videos offline genommen haben.
Wir alle, als Menschen, dürfen uns selbst und andere nicht zu leicht aus der Verantwortung lassen. Leider passiert das im aktuellen Coronaßnahmenkritikkontext viel zu häufig. Ich bin überzeugt: Kritik an Staat, System und natürlich der Handhabung der Pandemie ist möglich, ohne dass man naziähnliche Symbolik nutzt, Sozialdarwinismus befürwortet oder menschenfeindliche Verschwörungsmythen fördert.
Beitrag veröffentlicht am April 25, 2021
Zuletzt bearbeitet am April 25, 2021
Freie Fotografin seit 2009, freie Journalistin seit 2011, Mitbegründerin von Witness Europe und Report vor Ort.
Schreibe einen Kommentar
Du musst angemeldet sein, um einen Kommentar abzugeben.