Erneut versagt die internationale Gemeinschaft in Afghanistan. Niklas spricht sich für eine von Europa organisierte Evakuierung der Zivilbevölkerung aus.
Europa will die Kontrolle über die Zuwanderung behalten. Damit geht einher, zu agieren, statt zu reagieren. Mit den gewaltsamen Gebietseroberungen der Taliban in Afghanistan bietet sich genau dazu jetzt die Chance, die die Regierungen in den 1990er und 2010er Jahren im ehemaligen Jugoslawien und Syrien versäumt hat. Groß angelegte Evakuierungen.
Bereits jetzt verlassen täglich Tausende das Land. Zielort mag vielleicht noch die Türkei sein. Doch mit mehr als vier Millionen geflüchteten Menschen ist absehbar, dass ohne Schutz und Perspektiven der Weg weiter Richtung Westen führen wird. Das lässt sich auch mit EU-Milliarden, Frontex in der Ägäis und Abschiebungen am Evros nicht abwenden. Gäbe es tatsächlich den politischen Willen, Schleuser:innen das Geschäft zu vermiesen –die internationale Staatengemeinschaft hätte sich bereits vorgestern um Umsiedlungsprogramme bemüht.
Doch das ist Wunschdenken. Noch nicht einmal die besonders gefährdeten Ortskräfte in Afghanistan erhalten den gebotenen Schutz. Ihnen gegenüber besteht die Schutzverpflichtung ebenso wie bei jeder anderen Zivilperson im Land, die sich diesem Krieg mit Ansage entziehen möchte. Erst der 20 Jahre dauernde US-Einsatz mit den Verbündeten unter anderem aus Deutschland und die klägliche Außenpolitik in den Jahrzehnten zuvor haben den Boden für die jetzige Situation geschaffen. Die Risse, Explosionen und Morde, die das Land nun wieder einmal in allen schrecklichen Ausprägungen quälen.
Um aus deutscher Perspektive klarzustellen: Die Bundeswehr trifft an dieser Stelle keine Verantwortung für das Versagen. Ihr Auftrag war parlamentarisch. Der Beschluss dafür mag kritikwürdig, vielleicht sogar falsch gewesen sein. Doch der überhastete Abzug – ebenfalls politisch beschlossen – ist es umso mehr. Die Soldat:innen leiden jetzt mit ihren einstigen Kolleg:innen, für die sich Afghanistan nun zur Todeszone entwickelt.
Was bleibt, ist ein politisches Versagen auf allen Ebenen. Ein historisches. Ein tödliches. Die Namen der aktuellen und kommenden Regierungen, die nun die Verantwortung für die Situation in Afghanistan von sich wälzen, werden später in den Geschichtsbüchern stehen. So wie der damalige US-Präsident Barack Obama einst seine roten Linien für Syrien zog und dann nicht handelte.
Die einzig ethisch korrekte Konsequenz für Europa wäre nun, spätestens jetzt, in einem Bündnis ein groß angelegtes Evakuierungsprogramm für Afghan:innen anzubieten. Selbst wenn man die für Deutschland selbst auferlegte Obergrenze von 220.000 Menschen im Jahr zugrunde legt, zeigt das erste Halbjahr 2021 mit und knapp 59.000 Asylanträgen: Wir haben Platz. Nur der Wille für die Luftbrücke Kabul – Berlin (wahlweise: Brüssel) fehlt. In die andere Richtung hat die Bundesregierung sie jahrelang zu horrenden Preisen finanziert. Von den 59.000 stellte Afghanistan übrigens mit 12,9 Prozent die zweigrößte Gruppe nach Syrien mit 44,9 Prozent.
Zusätzliche Traumata und Gewalt durch das EU-Grenzregime blieben den Menschen erspart. Ihre Ersparnisse würden sie nicht Schleppern für eine lebensgefährliche Meerüberfahrt in die Hände drücken. Sie könnten sie als Neustart in einem sicheren Land verwenden. Damit lässt Europa wieder einmal die historische Chance verstreichen, sich als Hüterin der Menschenrechte auszuzeichnen. Kanada ist hier bereits mit gutem Beispiel vorangegangen. Stattdessen verlässt es sich auf chronisch unterfinanzierte Hilfswerke und -programme.
Schon bald werden Freiwillige die Strukturen aus 2015 und 2016 reaktivieren müssen. Denn die Menschen werden kommen und ihr Recht auf ein Leben in Sicherheit einfordern. Wir haben es ihnen genommen. Wieder einmal. Und wieder einmal wird Europa nur reagieren und seine hässliche Seite zeigen.
Beitrag veröffentlicht am August 15, 2021
Zuletzt bearbeitet am August 15, 2021
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