Adam hat die russische Belagerung von Mariupol überlebt. Einen Monat verbrachte er in der vom Krieg zerstörten Hafenstadt. Hier erzählt er von seinen Erlebnissen.
Krieg, Belagerung, Leid. Was Vladimir Ivanov in Mariupol wie viele der einst 400.000 Bewohner:innen der Hafenstadt im Zuge der groß angelegten russischen Invasion erlebt hat, lässt sich nur schwer begreifen. “Was in den Medien gezeigt und beschrieben wurde, war ein Traum verglichen mit der Realität”, versichert der 32-Jährige, der nach seinem Zweitnamen bevorzugt Adam genannt wird.
Einen Monat habe er unter katastrophalen Zuständen ausgeharrt, bis er es aus Mariupol schaffte, erzählt er. Inzwischen lebt Adam im nordwestlich gelegenen Dnipro, hat von einer Gastgeberin ein Zimmer erhalten.
Wenn Adam von diesen vier Wochen erzählt, spricht er schnell, manchmal geradezu hektisch. Statt gemütlich auf der Couch sitzt er auf der Armlehne, die Beine angezogen. Gleichzeitig befürchtet er, seine Emotionen könnten durch die Übersetzung ins Englische verloren gehen. Immer wieder hakt er daher selbst auf Englisch ein, um das Gesagte zu untermauern.
Bereits zu Beginn der groß angelegten russischen Offensive in der Ukraine habe er die Explosionen gehört, erzählt Adam. Da er am Stadtrand wohnte, umso besser – und nur wenige Tage später rollten die ersten russischen Panzer durch die Straßen Mariupols. Strom und Wasser fielen aus, Benzin neigte sich schnell dem Ende entgegen. Die Belagerung der Hafenstadt begann.
Ein Schutzraum im Keller oder ein Bunker sei für ihn jedoch nicht in Frage kommen. „Ich hatte das Gefühl, wenn ich bleibe, kommen die Bomben nicht“, beschreibt er. Bis zu seiner Flucht Ende März habe ihn dieses Gefühl auch nicht getäuscht. „Ich bin verrückt, wirklich“, schiebt Adam auf Englisch hinterher und grinst.
Diese lockere – wenn nicht gar fahrlässige – Einstellung dürfte auch aus den Erfahrungen der Vergangenheit rühren. Als Hooligan und Fußball-Fanatiker, wie sich Adam selbst beschreibt, sei er bereits bei den Ausschreitungen 2014 in Mariupol beteiligt und eine der Geiseln gewesen. „Wir wollten unseren Bürgermeister vor den russischen Truppen schützen“, stellt er klar, auf welcher Seite er damals stand. „Aber sie konnten uns nicht lange festhalten, sie haben uns gehen lassen“, erzählt er. Seine Mutter sei jedoch in jenem Jahr bei Kampfhandlungen gestorben.
Auf die Grausamkeiten in diesem Jahr bereitete das gewiss nicht vor. Eine Portion Spaghetti am Tag hätten sie sich zu Dritt teilen müssen. „Ich brauche nicht viel um zu überleben“, sagt Adam zwar eingangs, räumt später allerdings ein: „Ich habe mir mehr Sorgen um Essen und Trinken gemacht als um Bomben.“ Er weiß jedoch auch, dass einige ein noch schlimmeres Schicksal erlitten haben. „In einem Keller sind 20 Menschen wegen der Kälte gestorben“, sagt Adam mit zittriger Stimme. Er selbst habe sechs Kinder in seiner Nachbarschaft beerdigt, die durch Raketenangriffe gestorben seien.
Trotz dieser Erlebnisse hellt sich seine Mimik später noch einmal auf, als der 32-Jährige ein Phänomen beschreibt, das er „magisch“ nennt. Denn als er von den ersten Plünderungen hörte, habe er das Schlimmste bei den Einwohner:innen befürchtet. Nur sollte das nicht eintreten. Im Gegenteil: „Wir sind freundlicher zueinander geworden.“ Menschen, die sich sonst kaum füreinander interessiert hätten, hätten sich nun in der Not gegenseitig unterstützt, um die Belagerung zu überleben; während Treibstoff- und Zigarettenpreise in die Höhe schossen. Adam ließ die ersten Evakuierungsbusse ziehen, um seinen Freunden beizustehen. Zudem öffnete er seine Tür, um anderen Menschen einen Schlafplatz zu bieten.
In dieser Phase hätten er und seine Freunde auch den Wert des Lebens erkannt. „Die meisten Menschen haben Arbeit, um zu überleben“, schildert Adam rückblickend. Er selbst habe zwei Jahre lang täglich in einem Nachtklub gearbeitet, um 800 US-Dollar für eine zahnärztliche Behandlung zurückzulegen – nur um sie nun für Gas auszugeben. „Jetzt wollen wir unseren Träumen folgen“, betont er. Was das bei ihm sei? Filme machen oder einen Pulitzer-Preis gewinnen. Im investigativen Bereich habe er jüngst in Dnipro Erfahrung gesammelt, etwa, als er bei Hilfsorganisationen Betrug entdeckt und den Behörden gemeldet habe. „Jetzt will ich machen, was ich möchte“, stellt er klar – vom ehrenamtlichen Engagement sei er aktuell müde, deshalb lasse er das ruhen. Auch als Künstler betätigt er sich, nennt Jackson Pollock als sein Vorbild. Als Umweltaktivist wünscht er sich für die Ukraine außerdem eine bessere Mülltrennung und die Legalisierung von Cannabis.
Aus Mariupol schaffte er es Ende März. Zunächst zu Fuß aus der Stadt, dann per Anhalter durch die ganzen Kontrollen nach Saporischschja. Adam streckt die Faust aus mit dem Daumen nach oben, um das zu verbildlichen. Ein paar Sachen habe er mitgenommen, unter anderem seine Kamera, eigentlich um sie später zu verkaufen. „Aber die wurde mit abgenommen“, schildert Adam und schiebt auf Englisch hinterher: „Fucking Russians.“ Mehrfach habe er sich wegen seiner Tatoos komplett ausziehen müssen. „Sie haben auch gedroht, dass wir wieder in die Keller müssen“, ergänzt er. Später ging er mit einem Freund nach Dnipro, auch wenn er selbst lieber weiter Richtung Westen gezogen wäre.
Als einer, der Punkrock ebenso liebt wie den Fußball und sich für die Gleichberechtigung von Menschen einsetze, hoffe er auf einen Sieg der ukrainischen Armee. „Das sind großartige Leute“, betont Adam. Er selbst kenne von früheren Konzerten und Veranstaltungen rund 200 Mitglieder des wegen früherer rechtsextremer Bezüge häufig kritisierten Asow-Regiments – über sie will er kein schlechtes Wort verlieren. „Sie haben Essen in die Keller gebracht; den Leuten gesagt, wenn es sicher ist rauszukommen und sie beruhigt“, führt er aus.
Nach den Erfahrungen in Mariupol ist er überzeugt, dass der Krieg nur mit einem militärischen Sieg der Ukraine ein gutes Ende nehmen kann. Aufgeben? „Sie würden uns aushungern und töten, wie beim Holodomor1“Große Hungersnot” 1932/33 ausgelöst durch die Zerstörung der Landwirtschaft und Zwangskollektivierung mit schätzungsweise 3,5 Millionen Toten in der Ukraine, “, befürchtet er das Schlimmste. Danach kämen Polen und alle Länder, die nicht denken würden wie Russland mit seinen imperialen Ambitionen. „Ich bin kein Ukraine-Fanatiker“, erklärt Adam nun auf Englisch. Er liebe russische Dichter:innen, habe sich lange über russische Webseiten informiert und respektiere die Kultur nach wie vor. Er erkenne nun aber auch: „Sie hatte immer eine negative Einstellung gegenüber der Ukraine.“
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