Reporter Sergey Panashchuk lebt in Odesa. Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine riskiert er sein Leben, um über russische Kriegsverbrechen zu berichten, erzählt die Geschichten der Menschen und berichtet von der Front. Hier teilt er seine Gedanken mit.
Sergey Panashchuk is a Ukrainian journalist based in Odesa. He works for international media for more than ten years. Russia’s full-scale invasion made him a war reporter. Like many journalists on the ground he is under enormous mental and economical pressure. He risks his life every day to report from his home country. Support Sergey through Ko-Fi. From March to June 2024 we will forward him all contributions you send us.
Krieg ist ein talentierter Lehrer. Er lehrt uns, alles zu schätzen, was wir haben, egal wie wenig es ist. Glaub mir, wenn du noch alle Gliedmaßen und dein Augenlicht hast, hast du schon Glück. Ich habe zu viele Menschen getroffen, die diesem Punkt zustimmen würden.
Es ist nicht einfach zu beschreiben, wie es sich anfühlt, während des Krieges Ukrainer zu sein. Ich werde versuchen, dir einen Einblick zu geben.
Sergey Panashchuk ist ein ukrainischer Journalist aus Odesa. Er arbeitet seit mehr als zehn Jahren für internationale Medien. Der russische Großangriff machte ihn zum Kriegsreporter. Wie viele Journalist:innen vor Ort steht er unter einem enormen psychischen und wirtschaftlichen Druck. Er riskiert jeden Tag sein Leben, um aus seinem Heimatland zu berichten. Ihr könnt Sergey über unser Ko-Fi-Widget unterstützen. Von März bis Juni 2024 werden wir alle Beiträge, wir erhalten, an ihn weiterleiten.
Ich will ehrlich mit dir sein. Vor dem Großangriff habe ich mich um niemanden außer um mich selbst gekümmert. Das ist mir jetzt klar. Ich konnte einfach nicht begreifen, wie unbezahlbar und kostbar eine Persönlichkeit und ein Menschenleben ist, und wie wichtig mir die Menschen sind, die ich liebe.
Wiederhole nicht meine Fehler. Schätze, was du hast, wenn du es hast. Dein langweiliger Job, das Dach über dem Kopf, deine nerviger Bekannten, deine Frau oder Mann, deine Freundin oder deinen Freund. Millionen von Ukrainer:innen haben all dies verloren. Halte deine Lieben fest im Arm; gibt ihnen das Gefühl, geliebt zu werden. Es gibt nichts Sinnvolleres und Wertvolleres als das menschliche Leben.
Am ersten Tag der Großangriffs waren wir alle entsetzt. Es war der Moment einer lebensbestimmenden Entscheidung. Wären die Russen in der Lage gewesen, über Nacht das ganze Land zu erobern – und in den ersten Stunden sah es so aus, als ob sie dazu durchaus in der Lage gewesen wären – dann hätten sie keine Gnade mit den politisch aktiven Ukrainer:innen gehabt.
Ein Lokalpolitiker bat mich um Rat, ob er seine Familie ins Ausland bringen solle und was die Russen tun würden, wenn sie nach Odesa kämen. Ich habe ihm gesagt, dass die ethnische Säuberung, das Töten und Foltern von Ukrainer:innen, einschließlich Kinder, an erster Stelle stehen würde. Dann sah die ganze Welt, was in Butscha geschah.
Der 24. Februar war der Zeitpunkt der Wahl. Entweder man musste sich mental darauf vorbereiten, unter russischer Herrschaft zu leben, das Land zu verlassen oder zu kämpfen. Ich beschloss, auf die bestmögliche Weise zu kämpfen: Ich berichtete einem weltweiten Publikum im Vereinigten Königreich und in Deutschland über die Situation und die Kriegsverbrechen.
Das Frühjahr und der Sommer 2022 waren hart, aber der folgende Herbst und Winter waren noch schlimmer. Im Herbst begannen die Russen, unser Energiesystem zu zerstören, damit wir erfrieren. Sie dachten, wir würden Unruhen anzetteln und den Präsidenten auffordern, den Krieg zu beenden. Das bedeutet, dass die Russen das Wesen der ukrainischen Seele immer noch nicht verstanden haben. Wir werden uns niemals der Sklaverei fügen und uns von niemandem in die Knie zwingen lassen.
Die Angriffe auf das ukrainische Energiesystem begannen im September 2022 und dauerten die nächsten sechs Monate an. Lass mich dir erzählen, was es bedeutet, unter ständigen Stromausfällen zu leben. Erstens dauert es zwischen sechs Stunden und einer Woche, bis die Stromversorgung in der gesamten Stadt wiederhergestellt ist. Ende Oktober wurde ganz Odesa in Dunkelheit getaucht. Wir waren in völliger Dunkelheit auf dem Weg von der Arbeit in unsere kalten Wohnungen. Es war niemand auf der Straße. Während des vollständigen Stromausfalls verwandelte sich Odesa in eine Geisterstadt. Du kannst kein Taxi bestellen, weil es kein Internet und nicht einmal eine Mobilfunkverbindung gibt, und du musst kilometerweit durch die Dunkelheit laufen, um nach Hause zu kommen. Du kannst niemanden anrufen. Du weißt nicht, wie es deiner Familie und deinen Freund:innen geht und wo sie sind.
Später hatten wir vier Stunden am Tag Strom. Zwei Stunden am späten Abend und zwei Stunden am Tag. Wir hatten tagelang keine Heizung und manchmal kein Wasser, und es ist kalt in Odesa. Es war üblich, zu einem Freund zu gehen, wo es Wasser gab, um zu duschen, die Wäsche zu waschen und Geräte aufzuladen. Die meiste Zeit konnten wir unsere Angehörigen und Freund:innen nicht erreichen. Das ging so bis Februar.
Wir haben die Stromausfälle überlebt. Die Russen gaben Milliarden für Raketen aus, um uns zu brechen, aber sie scheiterten.
Die ukrainische Gesellschaft hat ein Wunder vollbracht, anstatt zusammenzubrechen und Angst zu haben, getötet zu werden. Die Menschen schlossen sich mit der Armee, der Regierung und untereinander zusammen. Als Zivilgesellschaft haben wir bereits gewonnen, und haben uns zu einer Nation geformt. Wir wussten nicht, was uns in den ersten Tagen des Krieges und während der Stromausfälle erwarten würde. Würden wir alle verrückt werden und die Supermärkte plündern? Das ist nicht geschehen. Stattdessen sind wir zusammengestanden. Viele humanitäre Organisationen tauchten auf und wir begannen, uns gegenseitig zu helfen. Freiwillige Helfer:innen kaufen Drohnen, Autos und Ausrüstung für die Soldat:innen. Auch zwei Jahre nach dem Beginn des Großangriffs. Autos und Drohnen sind an der Front entbehrlich. Freiwillige ukrainische Zivilist:innen halten die Armee am Leben.
Das ist nicht nur ein russisch-ukrainischer Krieg; es ist ein Krieg der Zivilisation gegen die Barbarei. Man kann keine Friedensgespräche mit Barbaren und Sadisten führen, die einen töten und vergewaltigen wollen.
Friedensgespräche sind keine Option. Russland will keinen Frieden. Der Angriff auf Getreidelager in der Ukraine und auf zivile Gebäude ist ein gutes Beispiel für die russischen Absichten. Sie wollen der Ukraine so viel Schaden wie möglich zufügen und die Ukraine als freien Staat und die Ukrainer:innen als Volk auslöschen. Dies geschah nicht aufgrund der Unverwüstlichkeit, des starken Freiheitswillens und der Tapferkeit der gefallenen Held:innen. Niemand, auch nicht die CIA, rechnete zu Beginn der Invasion damit, dass die Ukraine länger als drei Tage überleben würde. Wir haben das Unmögliche geschafft. Wir bekämpften das nukleare Imperium, die Manifestation des reinen Bösen. Aber wir stoßen bald an unsere Grenzen.
Dieser Krieg kann nicht auf dem Schlachtfeld gewonnen werden. Selbst wenn wir alle besetzten Gebiete befreien, wird das Russland nicht davon abhalten, Drohnen und Raketen dorthin zu schicken, wo es will.
Die westlichen Staaten sollten mehr diplomatischen und wirtschaftlichen Druck auf Russland ausüben. Ich glaube, dass der Krieg nur beendet werden kann, wenn die NATO an den Fronten präsent ist. Man könnte sagen, dass dies zum Dritten Weltkrieg führen könnte, aber wir haben bereits einen Quasi-Dritten-Weltkrieg: Eine wahnsinnige Anzahl von Ländern hat sich zusammengeschlossen, um der Ukraine im Kampf gegen Russland zu helfen, und ich glaube nicht, dass Russland die NATO jemals angreifen würde. Wenn man sich die Geschichte ansieht, haben Russland und die Sowjetunion nur Länder angegriffen, die sie für schwächer hielten: Finnland, Georgien, Afghanistan. Nur die NATO kann diesen Krieg und den Völkermord in der Ukraine beenden.
Beitrag veröffentlicht am März 22, 2024
Zuletzt bearbeitet am März 22, 2024
Sergey Panashchuk is a Ukrainian journalist based in Odesa. He works for international media for more than ten years. Russia’s full-scale invasion made him a war reporter. Like many journalists on the ground he is under enormous mental and economical pressure. He risks his life every day to report from his home country. Support Sergey through Ko-Fi. From March to June 2024 we will forward him all contributions you send us.
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