Überleben an der Front

Ein Mann mit Plastiktüten steht auf einem Bürgersteig neben einem Anhänger.

Ein Leben im Keller ohne Grundversorgung. Die Einwohner:innen von Stepnohirsk in der Nähe von Saporischschja sind seit fast zwei Jahren dem Grauen der russischen Invasion ausgesetzt.

Das öffentliche Leben gehört in Stepnohirsk der Vergangenheit an. Verbogene Stahlträger säumen den Straßenrand, Metall- und Glassplitter glitzern auf dem Boden. Getroffene Häuser zeigen ihre Dachstühle, schlammiges Wasser steht in Granatenkratern. Ein ständiges Grollen von Explosionen erfüllt die Stille in Stepnohirsk.

Zwei Jahre an Frontlinie

Die Region, die nur sechs Kilometer von der Frontlinie entfernt an der Landstraße Saporischschja-Melitopol liegt, ist seit März 2022 umkämpft – wenige Tage, nachdem Russland seine Großinvasion in der Ukraine gestartet hatte.

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Fast jeden Tag treffen Granaten das scheinbar verlassene Dorf. Sie graben sich in die dunkle Erde, reißen weitere Löcher in die Häuser, die Schule, die Straßen. Und manchmal töten sie die letzten Menschen, die noch in Stepnohirsk ausharren. Die letzten Überlebenden sind die älteren und behinderten Menschen sowie die Angehörigen, die sie pflegen.

Ein Backsteingebäude mit zerbrochenen Fenstern.
Das Schulgebäude wurde zu einer wichtigen Anlaufstelle für die verbliebenen Einwohner:innen von Stepnohirsk.

Die örtliche Schule dient nun der Stadtverwaltung als Büro und als humanitäres Zentrum. Mit ihren massiven Mauern ist sie zu einem Lebenserhaltungssystem für diejenigen geworden, die noch versuchen, durchzuhalten.

Todesfälle und Verletzungen

“Wir flehen die Menschen mit Tränen in den Augen an, zu gehen, aber wir können nur wenig tun, um sie zu überzeugen”, sagt Iryna, eine Vertreterin der lokalen Behörden. Sie weiß, wovon sie spricht. Eine russische Granate traf letztes Jahr genau das Klassenzimmer, in dem sie sich gerade aufhielt. Eine Fensterscheibe traf sie in den Rücken, und sie wurde mit Glasscherben überschüttet. Es war ein Wunder, dass sie ohne schwere Verletzungen überlebte.

Was sie jedoch als den Schock ihres Lebens bezeichnet, ist ein anderes Ereignis. Es geschah im Dezember 2023, nur wenige Tage vor dem Interview: Sie wurde Zeugin, wie eine 56-jährige Frau von einer russischen Granate zerfetzt wurde. Das Opfer war auf dem Heimweg vom humanitären Zentrum und trug Säcke mit Hilfsgütern, als die Granate direkt vor ihr einschlug.

Iryna hält einen Blumenstrauß.
Iryna besorgte Blumen für die Beerdigung der Frau.

“Wir waren alle hysterisch, als ihr Mann weinend kam. Die Gerichtsmediziner versuchten, ihre Leichenteile zu identifizieren und zusammenzusetzen, und gleichzeitig kamen immer noch Einheimische und baten um humanitäre Hilfe, als ob nichts passiert wäre”, sagt Iryna.

Traumatisiert durch die Erfahrungen

Alle Mitarbeiter:innen des Rathauses sind schwer traumatisiert und haben Angst, das Schulgebäude zu verlassen. Sie weigern sich, in die Nähe des Ortes zu gehen, an dem die Frau getötet wurde, als ob er verflucht wäre.

Ein Raum voller Gemälde an der Wand.

Alles, was von den Kindern von Stepnohirsk geblieben ist, sind die bunten Zeichnungen an den Wänden des Schulgebäudes. Laut Iryna sind sich die Russen des Gebäudes und dessen Nutzung bewusst – und nehmen es weiterhin gezielt ins Visier. Wegen des häufigen Beschusses mussten Iryna und ihre Kollegen ihr Büro in einen kleineren Raum verlegen, der mit einem improvisierten Holzofen beheizt wird. Auf der Fensterbank liegen zwei Äxte, darunter getrocknetes Holz für den Ofen und daneben ein kleiner Feuerlöscher.

Ein Raum mit einem Ofen und einem Fenster.

Ein bedrohliches Grollen liegt ständig über der kleinen Stadt in der Oblast Saporischschja, die fast völlig von der Außenwelt abgeschnitten ist. Seit Monaten gibt es kein Leitungswasser mehr. Das Wasser wird von einem kleinen Tankwagen auf dem Vorplatz der örtlichen Schule verteilt. Die Einwohner:innen von Stepnohirsk stellen sich mit Eimern und Kanistern an dem Tankwagen an der Seite des Gebäudes auf, an der das Risiko eines Granateneinschlags geringer ist.

Kein Gas, kein Strom, kein Wasser

Wenn die Bewohner:innen Strom benötigen, sind sie auf Generatoren angewiesen. Doch der Treibstoff ist knapp. Im kalten ukrainischen Winter heizen sie mit selbstgebauten Holzöfen. Mobilfunk ist in der Regel nicht verfügbar. Selbst wenn es Netz gäbe, wird den seltenen Besuchern des Dorfes geraten, ihre Telefone in den Flugmodus zu schalten, um nicht zu einem leichten Ziel für russische Angriffe zu werden.

Eine Gruppe von Menschen steht neben einem Lastwagen mit Wasserflaschen.

Schon vor dem Einmarsch der Russen waren die Aussichten für die Stadt nicht gerade rosig. Stepnohirsk wuchs in den 1980er Jahren vom Dorf Suchoiwaniwka zu einer Stadt mit rund 4500 Einwohner:innen, nachdem in der Nähe große Manganerzvorkommen entdeckt worden waren. Die Privathäuser aus der Dorfzeit stehen noch, aber es gibt keine Manganfabriken oder Minen mehr. Sie wurden 1996 geschlossen, weil sie nicht in das neue, postsowjetische Wirtschaftssystem passten und Verluste einfuhren. Stephohirsk geriet in eine große Depression und fiel noch tiefer, als es zum Frontdorf wurde und nur noch 800 Einwohner hatte.

Die Hoffnungen schwinden

Jetzt, wo es keinen Beschuss gibt, hört man Hähne, Vögel zwitschern und Wachhunde bellen: eine Illusion von dörflicher Ruhe. Der vielleicht letzte Rettungsanker für Stepnohirsk sind die unregelmäßig eintreffenden Hilfslieferungen. “Wir haben so viel Hoffnung in die Gegenoffensive gesetzt. Wir haben geglaubt, dass alles vorbei sein würde, aber jetzt wissen wir nicht, was wir glauben sollen”, sagt Olga, eine weitere Rathausmitarbeiterin. Die ukrainische Armee verfügt jedoch noch nicht über genügend Mittel, um die feindliche Artillerie zurückzudrängen und die Stadt vor Beschuss zu sichern.

Die Bürger:innen und die Verwaltungsmitarbeiter:innen können nicht einmal an die Zukunft denken. Sie denken in jeder einzelnen Sekunde nur ans Überleben. Seit zwei Jahren leben die verbliebenen Bewohner:innen in den Kellern der mehrstöckigen Gebäude, ausgestattet mit behelfsmäßigen Holzöfen und Generatoren.

Zusammenbruch einer Gesellschaft

Einige von ihnen gehen von Zeit zu Zeit daran zu Grunde. “Ich halte das nicht mehr aus, ich bin am Ende. Bitte helfen Sie mir, hier rauszukommen”, schreit eine verzweifelte Frauenstimme in Irynas Telefon. Und einige von ihnen wurden zu Kollaborateuren. Der ukrainische Geheimdienst nahm in Stepnohirsk einen Sicherheitsmann des Kindergartens fest, der nach Angaben des Gesetzgebers die Koordinaten der Schule an die Russen weitergab und ihnen damit half, das Gebäude anzugreifen, an dem die 56-jährige Frau getötet wurde.

Ein verrostetes Auto steht mitten auf einem Feld.

Für die Überlebenden muss alles mit kleinen Lastwagen herangeschafft werden. Trinkwasser, Lebensmittel, Tierfutter, Benzin. Vorbei an mehreren strengen Kontrollpunkten der ukrainischen Armee, ausgebrannten Autowracks und einer bis zur Unkenntlichkeit zerstörten Tankstelle. Die Freiwilligen, die hinter dem Steuer der Lastwagen sitzen, müssen einige Kilometer nach ihrer Ankunft kugelsichere Westen anlegen. Die Russen nehmen sie gezielt ins Visier, heißt es. Daher reisen sie aus Sicherheitsgründen nicht in Kolonnen.

Freiwillige halten das Leben am Laufen

Einer der Freiwilligen ist Mikola. Er ist ein sportlicher Mann, der immer lächelt, selbst auf dem Weg in die kleinen Dörfer oder wenn er erzählt, wie er in seinem Fahrzeug von Artillerie beschossen wurde und ein Splitter die Windschutzscheibe traf. In den vergangenen 18 Monaten hat er Hilfsgüter in frontnahe Städte und Dörfer wie Stepnohirsk geliefert.

“Irgendjemand muss es ja tun”, erklärt er – natürlich – mit einem Lächeln. Zuerst hatte er Angst, als das ferne Grollen in laute Explosionen in seiner Nähe überging. Aus Angst begann er, viel zu rauchen. “Aber man gewöhnt sich daran, wenn es jeden Tag passiert.” Er habe keine Angst mehr und mit dem Rauchen aufgehört. Er wisse, dass die Lieferungen in schwierigen Zeiten Hoffnung geben. Deshalb will er auch weiterhin in die gefährlichen Gebiete fahren, sagt Mikola. “Es ist eine wichtige und ehrenvolle Aufgabe. Ich mag, was ich tue. Und der Krieg wird offensichtlich noch lange andauern.”

Stepnohirsk am Rande eines Bodenangriffs?

Seine Heimatstadt zu verlassen, ist für Mikola im Moment keine Option. “Dies ist unser Land”, betont er: “Ich will nicht, dass russische Truppen hierher kommen.” Obwohl Russland die Stadt Saporischschja nicht kontrolliert, hat Putin die gesamte Oblast im September 2022 per Dekret annektiert und beansprucht sie nach wie vor als russisches Gebiet. Die ukrainische Gegenoffensive gilt weithin als gescheitert, indes bereitet Russland offenbar einen weiteren Vorstoß entlang der Frontlinie vor. Für die Menschen in Stepnohirsk würde dies wahrscheinlich weiteren Beschuss bedeuten.

Mikola hofft aber immer noch, dass die stockende ukrainische Gegenoffensive in naher Zukunft erfolgreich sein wird. “Ich habe bereits Freunde und Verwandte im Krieg verloren; einige wurden in den besetzten Gebieten ermordet. Ich möchte unbedingt diejenigen wiedersehen, die noch am Leben sind.” Ohne europäische Unterstützung ist dies jedoch unwahrscheinlich: “Egal wie hart wir kämpfen, wir können es nicht alleine schaffen.”

Beitrag veröffentlicht am Februar 3, 2024

Zuletzt bearbeitet am Februar 3, 2024

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