Alle an einem Tisch: Zu Besuch in einer Münchner Inklusions-WG

Die Münchner Inklusions-WG versammelt sich an einem Tisch.

Um ein inklusives Zusammenleben zu fördern, setzt ein Münchner Verein auf Wohngemeinschaften junger Menschen.

Als ihre Geschwister nach und nach das Elternhaus verließen, wollte auch Anna ausziehen. „Ich habe meine Eltern ewig lange gefragt“, erzählt die 25-jährige Münchnerin. Da sie alleine keinen Haushalt hätte führen können, schaute sie sich anderweitig um und wurde fündig: Bei der damals noch frisch gegründeten Inklusions-Wohngemeinschaft in Obersendling.

Für alle Anforderungen gewappnet

Abba schneidet in der Inklusions-WG Kartoffeln auf einem Schneidebrett.
Anna bereitet sich beim Besuch der Inklusions-WG lieber ihr eigenes Abendessen zu. Die Selbstbestimmung der Bewohner:innen nimmt einen hohen Stellenwert ein.

Die barrierefrei gestaltete Hochparterrewohnung bietet Platz für neun Menschen und ist per Aufzug stufenfrei erreichbar. Als die Hochhaussiedlung geplant wurde, berücksichtigten die Architekten die Ideen und Anforderungen des Vereins „Gemeinsam Leben Lernen“, der mehrere Inklusions-WGs in München betreut. „Sie ist perfekt barrierefrei zugänglich“, sagt Jenny. Ob Bad, Flur, Wohnzimmer und Küche oder der Balkon – auch eine Mitbewohnerin im Rollstuhl könnten sie in alle Bereiche der Wohnung schieben. Hier zeigt sich, dass die Infrastruktur die Grundlage für ein gutes Zusammenleben von Menschen mit und ohne Behinderung legt.

Selbstverständlich verfügt jede:r Bewohner:in über ein eigenes Zimmer entlang des langgezogenen Flurs. Dazu kommen eine Speisekammer, eine Toilette und ein Bad. Über das großzügige Ess- und Wohnzimmer mit angebundener Küche lässt sich der Balkon erreichen. Beim Einzug sei für sie vieles neu gewesen und sie habe Zeit zum Einleben gebraucht – und um alle künftigen Mitbewohner:innen kennenzulernen, sagt Anna. Doch nach wenigen Monaten hatte sie sich eingelebt:

Ich fühle mich wie in meinem alten Zuhause.

In einem Punkt unterscheidet sich die Inklusions-WG von einer klassischen WG: Die nicht behinderten Mitbewohner:innen unterstützen und pflegen bei Bedarf diejenigen mit einer Erkrankung oder Beeinträchtigung. Durch einen Drei-Schicht-Plan ist eine Betreuung in der Wohnung von nachmittags bis morgens gewährleistet Einmal im Monat fällt außerdem ein Wochenenddienst an. Hauswirtschaftliche Aufgaben wie Kochen, Putzen und Einkaufen – für einen so großen Haushalt sind auch schnell mal 250 Euro beim Wocheneinkauf ausgegeben – werden dann im Duo erledigt. Auch Freund:innen wie Konsti packen mit an, wenn sie gerade zu Besuch sind. „Ich habe noch nie so viel Spaß gehabt, einen Ofen sauber zu machen“, sagt er und lacht. Alle Teile des Modells lassen sich auseinandernehmen, um sie einfacher zu reinigen. „Das ist wahrscheinlich der sauberste Ofen Münchens“, scherzt Jule angesichts der regelmäßigen Reinigung.

Bereicherndes WG-Leben

Für die Betreuung und Pflege dürfen die gesunden Bewohner:innen mietfrei in der Inklusions-WG wohnen. Mit einem Haushaltsgeld werden die gemeinsamen Einkäufe finanziert. „Das ist hier wie ein WG-Leben“, unterstreicht Jenny. Im Vergleich zu einer Studierendenwohnung gehe der Alltag hier mit einer gewissen Verantwortung einher. Doch das empfindet sie durchaus als positiven Aspekt: „Es ist bereichernd, was man hier lernen kann fürs Leben.“ Um administrative Aufgaben wie Abrechnungen, die Dienstpläne und Organisatorisches kümmert sich die WG-Leitung, die der Verein stellt.

Vor dem Einzug in die Inklusions-WG kurz nach Beginn der Pandemie 2020 habe sie nur wenig Berührungspunkte mit behinderten Menschen gehabt, erzählt Jenny. Zumal sie vorher noch nie mit so vielen Menschen zusammengelebt habe. „Es war komisch, den Schlüssel zur Wohnung von acht anderen zu haben. Ich dachte, das ist deren Privatraum“, erinnert sich die Studentin an die erste Zeit.

Jenny schneider die Quiche an und verteilt am Esstisch die Portionen.
Jenny (Mitte) hat für das gemeinsame Abendessen in der Inklusions-WG eine Quiche ausprobiert.

Sie habe sich jedoch schnell an das neue Umfeld und die pflegerischen Tätigkeiten gewöhnt. Genau so habe sie gelernt, sich Zeit für sich selbst zu nehmen. „Es ist voll okay, im Zimmer zu sein und nicht an Aktionen teilzunehmen“, beschreibt sie einen Lernprozess, der auf jede WG zutrifft. Das Zusammenleben mit behinderten Menschen sei dann schnell Normalität geworden:

Ich weiß, wer die Menschen sind und was sie brauchen. Das weiß ich bei Mama und Freund:innen auch. Am Ende ist jede:r ein Individuum.

Im Grunde habe jede:r Punkte, bei denen er/sie mehr oder weniger Unterstützung benötige. Viel mehr führte die Inklusions-WG Jenny vor Augen, wie exklusiv die Gesellschaft ist und wie wenig alltäglicher Umgang besteht. Doch inzwischen kennt die Gruppe ihre Orte, um gemeinsam zum Bowlen, ins Kino, Museum, Schwimmbad oder auf Flohmärkte zu gehen. Anna hat mit den Direct Steps in Schwabing eine Hip-Hop-Tanzgruppe gefunden, mit der sie bei den Special Olympics Platz zwei geholt hat. Ein WG-Bus ermöglicht zusätzliche Mobilität bei Ausflügen. Zu den Höhepunkten zählt außerdem der jährliche WG-Urlaub. Nur eine inklusive Fahrradgruppe für Dani haben sie noch nicht gefunden. Für Tipps zu Themen wie Bewegung und Ernährung kommt einmal wöchentlich ein Personal Coach.

Individuelle Tagesabläufe und gemeinsame Stunden

Ansonsten erinnert vieles an einen typischen WG-Alltag. Morgens verlassen die Bewohner:innen das Haus, Anna etwa arbeitet bei der Kunst-Werk-Küche, einem inklusiven Gastronomiebetrieb am Münchner Ostbahnhof. Jenny geht ihren beiden Studiengängen in Osteopathie sowie Lehramt für Sport und Mathe nach. Andere werden für eine Tagesbetreuung abgeholt. Ab Nachmittag finden dann wieder alle zusammen.

Das inklusive WG-Leben zeigt für Jenny im Kleinen das, was auch gesamtgesellschaftlich gerade immer wieder Gegenstand des Diskurses ist: das Spannungsfeld zwischen einem selbstbestimmten Leben und Verantwortung. „Das hat immer wieder Diskussionspotenzial“, sagt Jenny. Wie soll sie etwa handhaben, wenn eine Mitbewohnerin selbst die Zähne putzen will, das aber motorisch nicht gründlich kann? Oder inwiefern tragen sie und ihre nicht-behinderten Mitbewohner:innen die Verantwortung für eine gesunde Ernährung, angesichts einer Gewichtszunahme aller Bewohner:innen in den vergangenen Monaten? Wenn also Freiheit gegen Gesundheit steht? „Bis wohin bestimmt man über die Köpfe hinweg?“, fasst Jenny die Fragestellung zusammen. Die aus ihrer Sicht beste Lösung: „Die Dinge, die besser sind, attraktiver und leichter zugänglich machen.“

In der Inklusions-WG bedeuten solche Diskussionen, sich mit den Perspektiven aller Beteiligten zu befassen und gemeinsam Lösungen für ein gutes Zusammenleben zu finden. Auch Anna schätzt das Miteinander und engagiert sich im Bewohner:innen-Beirat des Vereins. „Ich habe alles richtig gemacht“, sagt sie rückblickend über ihren Auszug aus dem Elternhaus. Mit der WG habe sie eine zweite Familie gefunden.

Beitrag veröffentlicht am Dezember 23, 2023

Zuletzt bearbeitet am Dezember 23, 2023

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